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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/89

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Gar manchem mochte sich bei diesem Wechselgesang ein geheimes Sehnen ins Herz schleichen, auch rauhere Gemüter mußten sich von der Schönheit des Erlebnisses ergriffen fühlen. Und wenn hie und einer sich müde in den Kahn legte, spann er die Eindrücke des Augenblicks gewiß im Traume fort. Das waren Nächte, die nicht leicht aus dem Gedächtnis schwanden.

So schüttete der Paulus andauernd ein reiches Füllhorn von Freuden auf seine Jünger aus – nicht umsonst freilich, denn ihr Genuß verschlang gar manche kostbare Stunde. Vielleicht hätte ich nicht ihm allein, sondern bisweilen auch anderen gelehrten Aposteln nachfolgen sollen; aber der goldne Ring, den ich als Ehrenzeichen für die ihm bewiesene Hingebung erhielt, war doch auch ein wertvoller Besitz. Ich habe die blaue Mütze mit Stolz getragen. Daß der Senat das Banner der Universität bei Aufzügen ständig dem Paulus anvertraute, war ein sichtbarer Beweis für das Ansehen, das er genoß. Es erschütterte mich daher nicht sehr, als mein Schulkamerad aus Freiberg, der einem Korps beigetreten war, beim Zusammentreffen während des „Couleurbummels“ auf der Grimmaischen Straße mich nicht mehr zu kennen schien: es war ihm offenbar verboten, mit einem farbentragenden Kommilitonen, dessen Körperschaft mit der seinigen nicht im Kartellverhältnis stand, Grüße auszutauschen. Ver­sagten doch die Korps, auf ein völlig veraltetes Herkommen aus früheren Jahrhunderten pochend, auch bei öffentlichem Auftreten der Studentenschaft, besonders beim Rektorats­fackelzug, jedesmal ihre Beteiligung, wenn ihnen nicht die Leitung der Sache zugestanden wurde. Ich konnte an den Korpsburschen beim besten Willen nichts entdecken, was sie über die anderen Studenten emporgehoben und ihren Anspruch auf die alleinige Führerschaft gerechtfertigt hätte, es müßte denn die allen Anforderungen der neuesten Mode entsprechende Kleidung, Frisur und Körperhaltung gewesen sein. Daß ein solcher überheblicher Dünkel unter der aufgeklärten akademischen

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/89&oldid=- (Version vom 4.6.2024)