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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/49

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Die ruhmvollen Ereignisse des Jahres brachten das vater­ländische Gefühl im Volke mächtig in Wallung, der deutsche Michel streckte kraftbewußt die Glieder. Kurz vor Ausbruch des Krieges nahm ein französischer Photograph in unserem Schulhofe klassenweise die Lichtbilder der ganzen Schülerschaft auf. Dann verschwand er, ohne ein einziges der bestellten Blätter abgeliefert zu haben. Es war vermutlich ein schlauer Spion, den die arglosen Deutschen ungestört hatten im Lande herumreisen lassen; der konnte nun seinem eroberungssüchtigen Herrscher neben geheimen Nachrichten viele Hunderte junger Feinde auf die Platte eingefangen überliefern. Welche Er­regung, als das Wort Krieg von Mund zu Munde eilte, welcher Jubel, als die Heeresnachrichten an den Anschlag­säulen Sieg auf Sieg verkündeten und vollends welcher Stolz, als die rothosigen Gefangenen zu Tausenden und Abertausenden ankamen. Die ersten Trupps von ihnen wurden in der großen Infanteriekaserne an der Hauptstraße untergebracht. Da standen sie hinter den Fenstergittern, knüpften schwatzhaft Beziehungen zu den versammelten Neugierigen an und ver­schacherten ihnen für Geld oder Zigarren ihre Achselstücke und die Knöpfe ihrer Waffenröcke. Auch ich erstand mir für 10 Pfennige einen solchen Knopf von einem Soldaten des 86. Regiments. Wiederholt habe ich ihn nachher mit Be­friedigung in die Hand genommen, heute überkommt mich beim Anblick dieses unscheinbaren Andenkens ein Gefühl bitteren Schmerzes. Schwer mußten die leichtsinnigen Fran­zosen die Verschleuderung ihres Eigentums büßen: wenn sie im folgenden harten Winter zur Arbeit über die Marienbrücke geführt wurden, sah ich manchen unter ihnen, der seinen Waffenrock nur mit Bindfaden zusammengebunden hatte. Schlag auf Schlag folgten die Siegesnachrichten aufeinander. Noch klingt es mir in den Ohren, wie am Vormittag des 3. September der Klassenlehrer hereingestürzt kam und uns zurief: „Jungen, geht nach Hause – Napoleon ist gefangen!“

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/49&oldid=- (Version vom 28.5.2024)