Alfred Kerr (Hrsg.): Pan (25. Oktober 1912) | |
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das Fräulein ist der Situation gewachsen, und auch meine Befangenheit verfliegt. Ich suche nach Anknüpfungspunkten, wir alle plaudern in der gewöhnlichen Weise. Eva H. widmet ihre Aufmerksamkeit einem Kritiker, der ein Maulwurfsgesicht hat, und sagt, indem sie mit heiterem Lachen die Hand auf seine Schulter legt:
‚Sie werden doch morgen im X-Theater sein, wenn ich das Röschen spiele?‘
Das X-Theater ist eine Vorstadtbühne letzten Ranges. Und schon flüstert mir der Freund, der mich vorgestellt hat, heimlich zu:
‚Sie hat ganz und gar kein Talent!‘
Eva H. scheint diese Ansicht nicht zu teilen, und ich bin vorläufig geneigt, ihr zu vertrauen. Sie ist mit Recht auf Protektion bedacht, um die Mißgunst zu bekämpfen, die sie wahrscheinlich nicht minder bedrückt als mich. Sie hat nichts als ihre Laufbahn im Sinn, läßt sich Papier und Tinte geben, um in unserer Gegenwart an Direktoren und Schauspieler irgend ein Anliegen zu richten. Ihr Gespräch dreht sich stets um diesen einen Punkt. Und plötzlich erzählt sie mir mit leiser Stimme die Geschichte ihres letzten Engagements, ohne sich um die andern zu kümmern. Ich betrachte sie, unterscheide kaum die einzelnen Sätze, die sie spricht. Ihre Verhältnisse sind mir nicht klar; wie mag sie nur zu all diesen Bekanntschaften gekommen sein? Wir werden unterbrochen, der Herr mit den schönen grauen Haaren hat sich an unserem Tische niedergelassen. Der alte Professor drückt kräftig meine Hand, bleibt aber nahezu stumm. Seine Augen sind klein, in eigentümlicher Weise verklebt; niemand schenkt ihm Beachtung. Ich habe ferner das Vergnügen, Evas intimen Freund kennen zu lernen, einen wohlerzogenen Herrn N., der eine goldene Brille trägt. Er reißt das Wort an sich und verteidigt in phrasenreicher Rede seinen Standpunkt in einer mir gleichgiltigen Angelegenheit.
Ich begreife, daß ich Opfer bringen muß, um mit Eva beisammensein zu dürfen, nehme daher manchen Händedruck hin, mit der Verpflichtung, ihn des öfteren zu wiederholen. Doch ich bin wenigstens für kurze Zeit imstande, allen Schwierigkeiten wie ein Traumwandler zu begegnen. Und das, obgleich mich der Kopf schmerzt, da ein gelindes Fieber nicht von mir weichen will. Ich bedauere, daß die Theaterkritik nicht zu meinen Gewohnheiten gehört. Vielleicht wird sich dies ändern lassen. Jedenfalls bringe ich sie heute nach Hause, da der elegante Herr, mit dem ich sie gestern habe vertraulich sprechen sehen, ihr seine Begleitung nur bis zur nächsten Straßenecke angeboten
Alfred Kerr (Hrsg.): Pan (25. Oktober 1912). Hammer-Verlag G.m.b.H., Berlin 1912, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pan_(25._Oktober_1912).djvu/14&oldid=- (Version vom 1.8.2018)