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Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein

sondern die Gesinnung, der das Schadenbringende an Stelle des Nützlichen vorschwebte. Von Natur widerstreitend sind aber: Mutmaßung und Wahrheit, Eitelkeit und Erkenntnis, die Wahrsagung ohne Begeisterung und nüchterne Weisheit.[1] 160 Wenn somit einer versucht, den anderen aus dem Hinterhalt umzubringen, jedoch ihn nicht zu töten vermochte, unterliegt er um nichts weniger der Strafe des Menschenmordes, wie das darauf bezügliche Gesetz klar lautet. Denn es heißt: „Wenn jemand dem Nächsten zusetzt, um ihn tückisch zu töten, und er flieht,[2] von meinem Altare sollst du ihn wegnehmen, daß er sterbe“ (2 Mos. 21, 14);[3] aber er hat ihm doch nur zugesetzt und ihn nicht umgebracht; die Absicht zu morden wird also als Frevel betrachtet, der dem Töten gleichkommt. Deswegen wird ihm nicht einmal als Schutzflehendem Straffreiheit gewährt, vielmehr hieß (das Gesetz) denjenigen, der eine so ruchlose Absicht hegte, aus dem Heiligtum wegführen. 161 Ruchlos (war sie) nicht nur deshalb, weil er gegen die Seele, die durch Erwerb und Übung der Tugenden ewig leben könnte, einen Mord durch schändlichen Angriff plante,[4] sondern auch deswegen, weil er Gott als den Urheber des frevelhaften, frechen Treibens angibt. Denn die Worte „und er flieht“ weisen auf diesen Sinn hin; da viele, die den gegen sie gerichteten Anklagen entgehen wollen und sich vor der Strafe für ihr Verbrechen zu schützen suchen, die eigene Blutschuld Gott zu Last legen,[5] der Urheber ist aller Güter, dagegen keines einzigen Übels.[6] Deshalb wurde es als statthaft erachtet, solche Menschen selbst von dem Altare wegzuführen.


  1. Das Wesen der wahren Prophetie besteht nach Plato (Phädr. 244 D) in der göttlichen Begeisterung (θεία μανία); S. Über die Einzelges. I § 65 und Anm. Zum Unterschied zwischen Prophetie und schwindelhafter Mantik vgl. Über die Einzelges. IV § 48ff. Die Nüchternheit Urheberin des Guten Über die Nüchternheit § 3.
  2. „und er flieht“ (καὶ καταφύγῃ) scheint erklärender Zusatz der LXX zu sein.
  3. Vgl. De fuga et inventione § 77; Über die Einzelges. III § 86ff. und Anm.
  4. Philo deutet also diese ganze Stelle allegorisch um, wonach es sich hier um einen Anschlag gegen das seelische Leben handeln sollte. Die Seele soll dadurch vernichtet werden, daß der Schlechtigkeit zum Siege verholfen wird.
  5. Auch nach dem Midrasch (Gen. r. 22) schreibt Kain die Schuld am Brudermord der Gottheit zu, da sie den bösen Trieb in die menschliche Seele gepflanzt hat.
  6. Vgl. Über Abr. § 143 und Anm.; De fuga. et invent. § 80.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloConfGermanStein.djvu/044&oldid=- (Version vom 1.8.2018)