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Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein

ihre Kräfte zu vernichten und auszurotten, die durch furchtbare Untaten befestigte herrschende Gewalt zu zerstören. 194 Siehst du nicht, daß auch der Bildner der Seelenteile[1] keinen zu wechselseitiger Gemeinschaft an (den Funktionen) des anderen zusammenführte? Vielmehr können die Augen nicht hören, die Ohren nicht sehen, im Munde der Geschmacksinn nicht riechen, die Nase nicht schmecken, die Sprache von einer Wahrnehmung nicht berührt werden, noch ein Sinnesorgan hinwiederum die Sprache hervorbringen. 195 Denn der Meister sah es als nützlich an, daß keines von ihnen die Sprache des anderen verstehe, vielmehr sollen die (einzelnen) Seelenteile zum Wohle der Lebewesen die eigenen Kräfte unvermischt gebrauchen, die Gemeinschaft aber soll ihnen genommen werden;[2] das Gefolge der Schlechtigkeit dagegen soll zur vollständigen Verwirrung und Auflösung geführt werden, damit es weder in gemeinsamer noch in gesonderter (Tätigkeit) den Besseren schädlich werde. 196 Deshalb heißt es auch: „Es zerstreute sie der Herr von dort“ (1 Mos. 11, 8), was soviel besagt als: er zersprengte, vertrieb, ließ schwinden, denn das Streuen[3] (bewirkt Gutes, das Zerstreuen aber Böses), jenes nämlich hat Zunehmen, Vermehrung und Wachstum des anderen zum Zwecke, dieses dagegen Vernichtung und Auflösung. Gott der Pflanzer[4] will aber die Rechtschaffenheit in das All streuen, [434 M.] dagegen die verdammenswerte Unfrömmigkeit zerstreuen und aus dem Weltstaat verbannen,[5] damit die tugendfeindlichen Sinnesarten endlich einmal aufhören, die Stadt und den Turm der Gottlosigkeit zu bauen. 197 Denn sind diese zerstreut, werden diejenigen, die einst vor der Gewaltherrschaft der Unvernunft geflohen sind, durch einen Erlaß die Rückkehr erlangen, da den Erlaß (Gott) ausgefertigt und bestätigt hat, wie der Gottesspruch beweist, in dem deutlich gesagt wird: „Wenn deine Zerstreuung von Himmelsende bis Himmelsende sein wird, von dort wird er dich sammeln“ (5 Mos. 30, 4).[6] 198 So geziemt


  1. Als solche gelten die Sinnesorgane nach Philos Lehre, daß nicht diese, sondern die Seele durch ihre Vermittlung die Eindrücke empfängt.
  2. Hier scheint Philo eine andere, dem Wortsinn näher liegende allegorische Deutung vorzuschweben, nach welcher die Aufhebung der Sprachgemeinschaft nur die Sonderung der Funktionen der Sinne bedeutet.
  3. Das griechische Wort steht besonders vom Ausstreuen des Samens.
  4. Vgl. o. § 61.
  5. Die Stoa bezeichnete die Welt als Großstaat. Vgl. Über die Weltschöpfung § 19; Über die Einzelges. I § 13 u. ö.
  6. Der MT hat: בקצה השמים‎: am Ende des Himmels.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloConfGermanStein.djvu/052&oldid=- (Version vom 1.8.2018)