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Philon: Über die Unveränderlichkeit Gottes (Quod Deus sit immutabilis) übersetzt von Hans Leisegang

Natur dann im Innern sich sammelt und ausruht, damit sie Atem schöpfend wie ein Ringer nach dem Wettkampfe und die eigene Kraft sammelnd zu den gewohnten Kämpfen von neuem antreten kann. Das aber geschieht zur Frühlings- und Sommerzeit. 39 Denn wie aus tiefem Schlafe sich wieder aufrichtend öffnet sie (die Natur) die Augen, dreht die geschlossenen Öffnungen (der Knospen) nach oben und macht sie weit auf. Alles aber, womit sie schwanger geht, gebiert sie: Blätter und Zweige, Ranken, Reben und vor allem eine Frucht. Ist sie dann vollendet, so verabreicht sie die Nahrung wie eine Mutter dem Kinde durch gewisse unsichtbare Poren, die den Brüsten bei den Frauen ähnlich sind, und sie hört nicht eher auf zu nähren, bis die Frucht vollendet wurde. 40 Vollendet aber ist die völlig ausgereifte (Frucht), wenn sie, ohne daß sie jemand abpflückt, selbst danach verlangt, das Zusammenleben zu lösen, da sie der Nahrung von der Mutter nicht mehr bedarf, wohl aber fähig ist, wenn sie guten Boden erhält, denen, die sie hervorbrachten, ähnliche (Pflanzen) auszusäen und zu erzeugen. [9] 41 Die Seele aber schuf der Schöpfer so, daß sie sich von der Natur durch dreierlei unterscheidet, durch die sinnliche Wahrnehmung, das Vorstellungsvermögen und den Begehrungstrieb,[1] denn die Pflanzen sind willenlos, vorstellungslos und ohne sinnliche Wahrnehmung, von allen Lebewesen aber hat jedes an den genannten Kräften Anteil. 42 Die sinnliche Wahrnehmung ist nun, wie es ihr Name selbst sagt,[2] gewissermaßen ein „Hineinstellen“ und führt die Erscheinungen dem Geiste zu; denn in diesem wird, da er ja eine sehr große und allumfassende Schatzkammer ist, alles durch das Gesicht und das Gehör und die anderen Sinnesorgane „hineingestellt“ und darin aufgestapelt. 43 Die Vorstellung aber ist eine [279 M.] in der Seele stattfindende Prägung;[3] denn auf das, was ein jeder der Sinne herbeiführt, drückt sie wie ein Finger- oder Siegelring das eigene Gepräge auf. Dem Wachse gleichend[4] nimmt der Geist den Eindruck genau auf und bewahrt ihn bei sich, bis die Vergeßlichkeit, die Feindin des Gedächtnisses, die Spur verwischt, undeutlich


  1. αἴσθησις, φαντασία, ὁρμή nach stoischer Terminologie.
  2. Philo leitet αἴσθησις von εἴσθεσις ab.
  3. Nach Zenos Definition (Arnim, Stoic. vet. fr. I 58), auf Grund deren Kleanthes das Bild von der φαντασία als des Abdruckes eines Petschaftes in Wachs gebraucht (Arnim, ebd. I 484).
  4. Siehe Über die Einzelges. I § 106 und Anmerkung dazu; Über die Weltschöpfung § 166; Alleg. Erklär. I § 61. Arnim a. a. Ο. II 843ff.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Unveränderlichkeit Gottes (Quod Deus sit immutabilis) übersetzt von Hans Leisegang. H. & M. Marcus, Breslau 1923, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloDeusGermanLeisegang.djvu/10&oldid=- (Version vom 4.2.2022)