Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/061

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

Entschlüsse rühmt oder seiner ausreichenden Fähigkeit, die Dinge teils zu wählen und teils zu verwerfen, dem sind folgende Erwägungen ins Gedächtnis zu rufen:[1] Wenn die Sache so stände, daß von denselben Dingen immer dieselben unterschiedslosen Vorstellungen eintreten, so wären wir vielleicht genötigt, die zwei in uns selbst von der Natur bereiteten Grundlagen der Erkenntnis, die Sinneswahrnehmung und den Geist, als untrüglich und unbestechlich hochzuschätzen, über nichts im Zweifel zu sein und deshalb mit dem Urteil über nichts zurückzuhalten, sondern den einmaligen Erscheinungen zu trauen und die einen (Dinge) zu wählen, die anderen hinwiederum zurückzuweisen. 170 Da es sich aber zeigt, daß wir von ihnen (d. i. den Dingen) ganz verschieden berührt werden, so sind wir wohl nicht in der Lage, auch nur über eines etwas Festes auszusagen, da ja die Erscheinung nicht stille steht, sondern vielartige und vielgestaltige Wandlungen[2] durchmacht; [42] ist nämlich die Vorstellung nicht fest gegründet, dann kann auch das auf ihr beruhende Urteil nicht fest gegründet sein. 171 Ursachen dessen gibt es viele: Erstens[3] die unsäglich vielen Unterschiede, die unter den Lebewesen, nicht bloß bei einem Teile, sondern bei fast allen bestehen, Unterschiede in ihrer Entstehung und Beschaffenheit, Unterschiede in der Ernährung und Lebensweise, Unterschiede in dem, was sie wählen und verabscheuen, Unterschiede in der Betätigung der Sinnesorgane und der Erregung durch Reize, Unterschiede in den Besonderheiten der zahllosen körperlichen und seelischen Leidenszustände. 172 Aber abgesehen von den urteilenden Subjekten sehe man sich einmal einige von den Objekten[4] des Urteils an, wie z. B. das Chamäleon und den Polypen; jenes wechselt, wie man erzählt, seine Farbe und gleicht sich so dem Boden an, auf dem es gewöhnlich kriecht, dieser den Felsen im Meere, die er umklammert, weil wohl die Retterin Natur ihnen diesen vielfältigen Wechsel der Farbe als Abwehrmittel gegen ihre Gefangennahme zum Geschenk gemacht hat. 173 Und hast


  1. Hier beginnt Philo, die Gründe Aenesidems für die ἐποχή als Beweis seiner Behauptung § 166f. anzuführen.
  2. Was Heraklit über das Ding behauptete, überträgt Aenesidem hier auf die Erscheinung (vgl. v. Arnim, a. a. O. S. 59 und 83).
  3. Das ist der erste τρόπος τῆς ἐποχῆς bei Aenesidem. (Sextus Empir. Pyrrh. Hyp. I § 40–78).
  4. Dadurch, daß Philo hier von den Subjekten des Urteils zu den Objekten überspringt, unterbricht er den systematischen Zusammenhang der τρόποι Aenesidems, um gleich darauf, § 175, wieder zu den Unterschieden der erkennenden Subjekte zurückzukehren.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/061&oldid=- (Version vom 21.5.2018)