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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

Dinge jedesmal anders, sondern auch verschiedene Menschen (urteilen) verschieden, und empfangen dabei Lustgefühle und umgekehrt Unlustgefühle von den gleichen Dingen; worüber nämlich einige mißvergnügt werden, darüber freuen sich andere und dagegen wieder, was die einen als lieb und zugehörig begrüßen[1] und bewillkommnen, das wünschen andere als fremd und verhaßt weit von sich zum Henker. 177 So war ich oft schon im Theater dabei und habe selber gesehen, wie von einem und demselben Liede der auf der Bühne auftretenden Schauspieler oder Sänger ein Teil der Zuschauer so mitgerissen wurde, daß sie ganz aufgeregt unwillkürlich davon widerhallten und Beifallsrufe ausstießen, ein anderer Teil aber sich so unberührt verhielt, daß man darum hätte glauben können, sie unterschieden sich gar nicht von ihren leblosen Stufensitzen, andere wieder so heftige Abneigung empfanden, daß sie fluchtartig das Schauspiel verließen und sich überdies mit beiden Händen die Ohren ausbeutelten, damit nur ja kein Ton darin bliebe und nachhallend ihrer mürrischen und mißvergnügten Seele keine Unlust bereite. 178 Doch wozu Sprechen wir über diese Dinge?[2] Erfährt doch jedes einzelne Individuum[3] an sich selbst – höchst sonderbar! – tausend Veränderungen und Wandlungen an Körper und Seele, so daß es Dinge, die sich niemals ändern, sondern ihrer Natur nach dauernd die gleiche Einrichtung haben, bald wählt, bald von sich weist. 179 Denn nicht dasselbe pflegen Gesunde zu erleben wie Kranke, nicht dasselbe Wache wie Schlafende, nicht dasselbe Jugendkräftige wie Gealterte; und auch der ruhig Stehende empfängt freilich andere Sinnesvorstellungen als der sich Bewegende, der Mutige andere als der Furchtsame, ferner auch der Betrübte andere als der sich Freuende, und der Liebende andere als sein Gegenteil, der Hassende. 180 Doch wozu soll man bis zur Belästigung darüber viel Worte machen? Denn kurz gesagt: jede naturgemäße und ebenso jede widernatürliche [385 M.] Bewegung[4] des Körpers und der Seele wird Ursache der rastlosen


  1. Statt ἐπισπασάμενοι lese ich ἀσπασάμενοι und begründe diese Änderung Wien. Stud. XLV, S. 246.
  2. Mit dieser Frage schafft sich Philo den Übergang zum vierten τρόπος bei Sextus; der dritte fehlt bei Philo.
  3. Sehr geschickt leitet unser Schriftsteller von den Lebewesen (§ 171) zu den Menschen im allgemeinen (§ 176) und von da zum Einzelmenschen (§ 178) über.
  4. Nach stoischer Anschauung ist jeder Affekt (πάθος) eine κίνησις ψυχῆς ἄλογος καὶ παρὰ φύσιν. Philo scheint nun hier den πάθη als ihren Gegensatz WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt die εὐπάθειαι entgegenzustellen und sie als κινήσεις κατὰ φύσιν aufzufassen.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/063&oldid=- (Version vom 21.5.2018)