Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/45

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

könnte diesem Gegenstande eine unendliche Ausdehnung geben; prüfend[1] würde er finden, daß gemäß der Proportion die kleinsten Tiere den größten gleich sind, wie z. B. die Schwalbe dem Adler, die Seebarbe dem Walfisch, die Ameise dem Elefanten. Ja sogar Körper und Seele und Affekte, Schmerz und Freude, außerdem auch Zuneigung und Abneigung, und alles was die Natur der Lebewesen enthält, fast alles ist gleichartig, wenn es nach der Proportionsregel gleichgesetzt wird. 155 Ebenso erkühnten sich einige, das so unbedeutende Lebewesen, den Menschen, der ganzen Welt gleichzustellen im Hinblick darauf, daß beide aus einem Körper und einer denkenden Seele bestehen, so daß sie wechselweise erklärten, der Mensch sei eine kleine Welt und die Welt ein großer Mensch.[2] 156 Das lehren sie aber nicht unüberlegt; vielmehr erkannten sie, daß Gottes Meisterschaft, mit der er [p. 495 M.] alles schuf und die, keiner Überspannung oder Erschlaffung[3] fähig, stets sich gleich bleibt, alles Existierende vollkommen mit höchster Genauigkeit geschaffen hat, wobei der Schöpfer sich aller Zahlen und aller zur Vollendung erforderlichen Ideen bediente. [32] 157 Denn „mit Rücksicht auf den Geringen und mit Rücksicht auf den Großen“, wie Moses sagt (5 Mos. 1, 17), entschied er, als er jegliches schuf und gestaltete; weder verminderte er seine Kunstfertigkeit wegen der Unscheinbarkeit des Stoffes, noch erhöhte er sie wegen dessen Vorzüglichkeit. 158 Wollen doch alle tüchtigen Künstler die übernommenen Stoffe, mögen sie kostbar oder von geringem Werte sein, in löblicher Weise bearbeiten! Ja manche pflegen sogar aus Liebe zum Schönen die minderwertigen Sachen kunstvoller als die kostbaren anzufertigen, um durch die Zugabe ihres Kunstverständnisses die Mangelhaftigkeit des Stoffes abzugleichen.[4] 159 Aber vor Gott ist keines der materiellen Dinge

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/45&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
  1. Wendlands Ergänzung γάρ ist wenig wahrscheinlich; zum Asyndeton vgl. etwa § 164 Anfang.
  2. Vgl. Über d. Weltschöpfung § 82 u. Anm. und weiter unten § 263. Über Nachwirkungen in der Gnosis vgl. Leisegang, Die Gnosis 118.
  3. Ein musikalisches Bild; der Vergleich der Welt mit einer harmonisch gestimmten Leier drang in die hellenistische Philosophie (Heinemann, Poseid. met. Schr. I 138, 9) aus der Lehre der Pythagoreer, denen die akustische Bedeutung der Zahlenverhältnisse bekannt war.
  4. Wendland, der (statt ἐπανισώσαι) ἐπανορθώσαι schreiben möchte, übersieht, daß Philo in den (der Bibelzitate wegen) von ihm dem Gedankengang der Quelle zugesetzten §§ 157ff. offenbar mit dem ethischen Nebensinn des Wortes ἴσος arbeitet (zu § 143).