Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn | |
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Richter, das unterdrückte (Geschlecht) von dem unterdrückenden scheidet und jenes zu vollständiger Freiheit hinausführt, diesem die Strafe für seine Sünden heimzahlt. 272 Denn so heißt es: „Das Volk aber, dem sie dienen werden, werde ich richten; hierauf werden sie hierher ausziehen mit viel Gepäck“ (1 Mos. 15, 14). Denn wer sterblich ist, muß von der Schar der Affekte bedrückt werden und die dem Geschöpf eigentümlichen Leiden auf sich nehmen, aber Gottes Wille ist, die angeborenen Übel unseres Geschlechts zu erleichtern. 273 Demnach werden wir einerseits zunächst als Sklaven roher Herren die unserer Natur entsprechenden Übel erdulden, andererseits wird Gott das ihm Entsprechende tun, da er im voraus den ihn um Hilfe anflehenden Seelen Erlösung und Befreiung verkündet hat,[1] und ihnen nicht nur Lösung der Fesseln und Ausgang aus dem ringsum bewachten Gefängnis gewährte, sondern auch Reisezehrung gab, die er „Gepäck“ nannte. 274 Was ist aber damit gemeint? Wenn der von oben, vom Himmel herabgestiegene Geist an die leiblichen Bedürfnisse gekettet wurde, sodann aber sich nicht zwitterhaft von einem derselben ködern läßt, noch die angenehmen Übel hochschätzt, sondern wirklich mannhaft in seiner Natur verharrt und imstande ist, eher zu überwältigen als sich überwältigen zu lassen, da er herangebildet wurde in allen (Wissenschaften), durch welche er die Liebe zum Schauen erworben und die starken Tugenden, die Selbstbeherrschung und Standhaftigkeit, gewonnen hat, so wandert er wieder hinaus, findet den Rückweg in die Heimat und führt alle die Bildung mit, die eben „Reisegepäck“ genannt wird.
[56] 275 Nachdem hierüber soviel gesagt ist, heißt es zum Schluß: „Du aber wirst zu deinen Vätern gehen, mit Frieden herangewachsen,[2] im schönem Greisenalter“ (1 Mos. 15, 15). Also wir, die [p. 513 M.] Unvollkommenen, wir werden bekämpft und geknechtet, wir erlangen mit Mühe Erlösung aus drohenden Schrecknissen, die Vollkommenen aber werden nicht geknechtet und bekämpft sondern wachsen in Frieden und gänzlich gesicherter Freiheit heran. 276 Zu unserer Belehrung führt die heilige Schrift den Vollkommenen uns nicht als
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/72&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
- ↑ So auch Mangey. Aber προκηρύξας steht mit παρασχόμενος und δούς parallel; man würde auch «ὁ» ἄφεσιν προκηρύξας erwarten. Προκηρύττειν bedeutet also wohl, „feierlich (öffentlich) verkünden“, also freisprechen. I. H.
- ↑ τραφείς (eig. genährt) für תקבר hat auch die Sept.; es ist offenbar ein alter Schreibfehler für ταφείς oder ταφήσῃ, der also schon Philo vorlag. Akylas und Symmachus haben ταφείς.