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Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn

Denn was der grosse Lenker im Weltall ist, das ist wohl der menschliche Geist im Menschen[1]; er ist selbst unsichtbar, sieht aber alles, er ist seinem Wesen nach unkenntlich, erkennt aber das Wesen der anderen Dinge; durch Künste und Wissenschaften bahnt er sich weitverzweigte Heerstrassen und durchwandert die ganze Erde und das Meer und erforscht alles, was in beiden ist. 70 Und dann[2] erhebt er sich im Fluge und betrachtet die Luft und ihre Veränderungen und schwingt sich immer höher hinauf zum Aether und in die Himmelskreise und dreht sich mit den Reigentänzen der Planeten und Fixsterne nach den Gesetzen der vollkommenen Musik; indem er der Liebe zur Weisheit als Führerin folgt, schreitet er über die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt hinaus und strebt nach der rein geistigen; 71 und wenn er hier die Urbilder und die Ideen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die er dort gesehen, in ihrer ausserordentlichen Schönheit betrachtet, ist er von einer nüchternen Trunkenheit[3] eingenommen und gerät in Verzückung wie die korybantisch Begeisterten[4]; und erfüllt von anderer Sehnsucht und besserem Verlangen, wird er durch dieses zum höchsten Gipfel des rein Geistigen emporgetragen und glaubt bis zum „Grosskönige“ selbst vorzudringen. Wenn er nun begierig ist zu schauen, ergiessen sich über ihn stromweise reine und ungetrübte Strahlen vollen Lichtes, so dass durch ihren Glanz das geistige Auge geblendet wird. – Da aber nicht jedes Bild dem ursprünglichen Musterbilde ähnlich ist, da im Gegenteil viele unähnlich sind,

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Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1909, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloOpifGermanCohn.djvu/29&oldid=- (Version vom 9.9.2019)
  1. Ganz ähnlich im Talmud Berachot f. 10a: „Wie Gott die ganze Welt erfüllt, so erfüllt auch die Seele den ganzen Körper; wie Gott sieht und nicht gesehen wird, so sieht auch die Seele und wird nicht gesehen“. Vgl. Midr. Tehill. 103,4.
  2. Die Schilderung des im Verlangen nach Erkenntnis emporstrebenden menschlichen Geistes lehnt sich an die Schilderung des philosophischen Triebes der Seele (des platonischen Eros) in Platos Phaedrus an.
  3. „Nüchterne Trunkenheit“ ein Lieblingsausdruck Philos zur Bezeichnung des Rausches der Begeisterung.
  4. Die Korybanten waren nach der Vorstellung der Griechen die mythischen Vorbilder der Priester der phrygischen Göttin Kybele, die in ekstatischer Verzückung unter Lärm und Geschrei mit wilder Musik und Waffentänzen ihren Dienst verrichteten.