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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler

über ihre [689 M.] Schönheit erfaßte er, daß er entweder Gott allein zugeteilt worden sei oder dem zwischen dem sterblichen und dem unsterblichen Geschlecht in der Mitte stehenden Wesen. 229 Demnach heißt es: „Und ich stand zwischen dem Herrn und euch“ (5 Mos. 5, 5),[1] womit er nicht etwa ausdrücken will, daß er auf seinen eigenen Füßen feststand, sondern nur anschaulich machen wollte, daß die Denkseele des Weisen, wenn sie sich von Stürmen und Kämpfen befreit hat und die windstille Ruhe und tiefen Frieden genießt, höher ist als ein Mensch, geringer aber als Gott. 230 Der gewöhnliche Menschengeist nämlich wird erschüttert und verwirrt von den zufällig eintretenden Ereignissen, er aber ist, weil selig und glücklich, ledig alles Übels. Ein Mittelwesen ist der Weise, richtig ausgedrückt: weder ein Gott noch ein Mensch, sondern an beide Extreme heranreichend, durch seine Menschlichkeit an das sterbliche Geschlecht, durch seine Tugend an das unvergängliche. 231 Dem kommt auch der über den Hohenpriester verkündete Spruch nahe: „Wenn er“, heißt es nämlich, „in das Allerheiligste hineingeht, wird er kein Mensch sein, bis er wieder herauskommt“ (3 Mos. 16, 17)[2]. Wenn er aber dann kein Mensch wird, so ist es klar, daß er auch kein Gott (wird); was ist er anderes als ein Diener Gottes,[3] nach seinem sterblichen Teile der Schöpfung, nach dem unsterblichen dem Schöpfer verwandt. 232 Die Mittelstellung aber behält er so lange, bis er wieder herauskommt in die körperlichen und fleischlichen Verhältnisse. Und damit verhält es sich folgendermaßen: Wenn der Geist, von göttlichem Liebesdrang ergriffen, sich bis zum Allerheiligsten hinstreckt und mit Einsatz seines ganzen Strebens und Eifers vorankommt, hat er, von Gott hingerissen, alles andere vergessen, hat aber auch sich selber vergessen; er erinnert sich allein und klammert sich an den von Trabanten Geschützten und von Dienern Betreuten, dem er die heiligen und unberührten Tugenden als Rauchopfer darbringt. 233 Wenn aber die Begeisterung zum Stillstand kommt und der heftige Drang nachläßt, entläuft er dem Göttlichen wieder und wird Mensch, da er auf das Menschliche getroffen ist, das ihm im Vorhof auflauerte, um ihn, wenn er sich von drinnen auch nur sehen läßt, hinwegzuraffen. [35] 234 Den Vollendeten also schildert


  1. Vgl. Der Erbe des Göttlichen § 206 und die Anmerkung dazu.
  2. Vgl. oben § 189.
  3. Ich folge der Verbesserung Wendlands: δῆλον δ` ὅτι οὐδὲ θεός, τί ἄλλο ἢ λειτουργὸς θεοῦ.
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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/103&oldid=- (Version vom 7.1.2019)