Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler | |
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[40] 261 Hierüber nun genug. Da er aber nicht nur ein Stehen und einen Fluß, sondern auch Ufer eines Flusses im Traumgesicht geschaut zu haben erklärt, da er sagt: „Ich glaubte zu stehen an dem Ufer des Flusses“ (1 Mos. 41, 17), dürfte es nötig sein, auch über das Ufer das Passende zu erwähnen. 262 Die Natur scheint nun aber um zweier sehr nötiger Dinge willen den Lebewesen und besonders den Menschen Lippen,[1] angefügt zu haben: einmal um des Schweigens willen – denn sie sind eine Schutzwehr und ein ganz fester Damm der Stimme –, zweitens um der Sprechfähigkeit willen; denn durch sie wird der Redefluß dahingetragen. Wenn sie sich nämlich zusammenziehen, wird er aufgehalten, und es ist unmöglich, daß er dahinfließt, wenn sie nicht auseinandertreten. 263 Deshalb üben und schulen sie (uns) für beides, für das Reden und das Schweigen, wenn (wir) den passenden Augenblick für beides beobachten. Wird zum Beispiel etwas des Hörens Wertes gesagt, höre in Ruhe zu, ohne etwas zu entgegnen, nach der Vorschrift des Moses: „Schweige und höre“ (5 Mos. 27, 9). 264 Unter denen nämlich, die zu den eristischen Disputationen kommen, dürfte man von keinem einzigen glauben, daß er richtig rede und zuhöre; wer wirklich hören will, dem ist das Schweigen von Nutzen.[2] 265 Ferner, wenn du in den Kämpfen und Übelständen des Lebens die gnädige Hand und Macht Gottes erblickst, schirmend und schützend, schweige. Denn dieser Helfer bedarf keines [694 M.] Beistandes im Kampfe. Ein Beweis hierfür ist der in den heiligen Schriften niedergelegte Spruch: „Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet schweigen“ (2 Mos. 14, 14). 266 Wenn du aber vollends siehst, daß die echten Sprößlinge und Erstgeborenen Ägyptens zugrunde gehen (2 Mos. 11, 5), das Begehren, das Genießen, das Trauern, das Fürchten, das Unrechttun, das Unverständigsein, das Leben in Ausschweifungen und was hiermit verbrüdert und verwandt ist, schweige erschüttert, dich beugend vor der furchtbaren Macht Gottes. 267 „Denn es soll“, heißt es, „nicht ein Hund mit der Zunge blecken, nicht vom Menschen bis zum Vieh“ (ebd. 7), das heißt so viel wie: es geziemt weder der hündischen,
Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/109&oldid=- (Version vom 6.1.2019)