Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler | |
|
Schicksalsschläge auferlegen. 111 Denn sie ist unsere Freundin und Bekannte, unsere Vertraute und Gefährtin, an uns gebunden, ja noch mehr: uns eingefügt und eins mit uns geworden durch eine Art unauflösbaren und unsichtbaren natürlichen Kitt. Deshalb sagt sie uns auch vorher, was uns zuträglich sein wird, und wenn etwas Unerwünschtes eintritt, steht sie uns ungerufen zur Seite, um uns zu helfen, dadurch, daß sie uns nicht nur von zweierlei Hilfe eine, wie der Ratgeber, der aber nicht handelt, oder der Mitkämpfer, der aber schweigt, sondern beide bringt. 112 Denn sie betätigt nicht nur eine halbe Kraft, sondern eine in allen Teilen ganze; denn wenn sie bei dem Unternehmen scheitert, das sie beabsichtigt oder durch die Tat ausführt, kommt sie auf das dritte Hilfsmittel:[1] den Trost. Denn wie Arznei für Wunden, so ist die Sprache ein Heilmittel für Leiden der Seele, die man, wie der Gesetzgeber sagt, „vor Untergang der Sonne“ zurückgeben muß (2 Mos. 22, 26), d. h.: bevor die hellsten Strahlen des größten und sichtbarsten Gottes untergehen, die er aus Mitleid mit unserem Geschlecht vom Himmel her in den menschlichen Geist entsendet. 113 Denn wenn in der Seele das gottähnlichste und unkörperliche Licht verweilt, werden wir das als Pfand genommene Wort zurückgeben wie ein Gewand, damit es dem, der den eigentlichen Besitz des Menschen empfängt, möglich werde, die Scham seines Lebens zu verhüllen, die Gottesgabe zu genießen und in Ruhe zu schlafen in Gegenwart eines solchen Beraters [638 M.] und Behüters, der den ihm angewiesenen Posten niemals verlassen wird. 114 Solange nun Gott dir noch den heiligen Glanz erstrahlen läßt, beeile dich, dem Herrn das Pfand bei Tage wiederzugeben; ist er aber untergegangen, so wirst du wie ganz Ägyptenland (2 Mos. 10, 21) in dichter Finsternis leben in Ewigkeit und, mit Blindheit und Unwissenheit geschlagen, aller Dinge beraubt werden, die du in deiner Macht zu haben glaubtest, und von dem schauenden Israel, den du auspfändetest, obwohl er von Natur kein Sklave war, notwendig geknechtet werden. [19] 115 Ich habe diese Rede so weit ausgesponnen um keines anderen Grundes als um der Lehre willen, daß der tugendeifrige Geist, der in schwankende Bewegungen gerät, je nachdem ob er eine gute Fahrt oder das Gegenteil antritt, und gleichsam fortwährend hinauf- und herabsteigt, dann, wenn er in guter Fahrt ist und sich nach der Höhe hebt, von den urbildlichen und unkörperlichen Strahlen aus dem Vernunftquell des alles vollendenden Gottes umglänzt wird, wenn er aber hinabsteigt und schlechte Fahrt macht,
- ↑ Der λόγος ist also 1. σύμβουλος, 2. συναγωνιστής und 3. παρήγορος. Auf die erste Funktion weist hier διανοεῖται, auf die zweite ἔργῳ ἐπεξέρχεται hin.
Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/34&oldid=- (Version vom 7.10.2018)