Philon: Ueber die Cherubim (De Cherubim) übersetzt von Leopold Cohn | |
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die Nase den Duft, ferner durch die Geschmackswerkzeuge den Geschmack und durch den Tastsinn jeden körperlichen Gegenstand, so wird sie, nachdem sie empfangen, schwanger, bekommt sogleich Geburtswehen und gebiert das grösste der seelischen Uebel, den Wahn; denn sie wähnte, dass alles ihr Besitz sei, was sie sah, was sie hörte, was sie schmeckte, was sie roch, was sie fasste, und bildete sich ein, alles selbst erfunden und gestaltet zu haben. 58 (18.) Sie erfuhr dies aber nicht ohne Grund. Denn es gab einmal eine Zeit, da der Geist nicht mit der Sinnlichkeit[WS 1] Verkehr pflegte und keine Sinneswahrnehmung hatte, da er sich ganz und gar unterschied von den geselligen und in Herden zusammenlebenden [p. 150 M.] Geschöpfen, und den für sich allein und einsam lebenden Tieren glich. Damals nun, wie er für sich allein stand, berührte er nichts Körperliches, weil er kein Sehorgan bei sich hatte, mit dem er die Aussenwelt erfassen konnte, sondern blind und ohnmächtig war, nicht was die grosse Masse so nennt, wenn sie einen an den Augen Erblindeten erblickt, denn dieser ist nur eines Sinnes beraubt und befindet sich im vollen Besitz der anderen; 59 der Geist aber war aller Sinneskräfte beraubt, wirklich ohnmächtig, nur die Hälfte einer vollkommenen Seele, weil er der Fähigkeit ermangelte, mit der Körperliches erfasst werden kann, ein unglücklicher Teil für sich allein, der des dazugehörigen beraubt ist, ohne die Stützen der Sinneswerkzeuge, auf die er sich zu stützen vermöchte, wenn er wankt. Aus diesem Grunde war auch tiefes Dunkel über alle Körper ausgebreitet, da keiner in die Erscheinung treten konnte; denn der, dem sie bekannt werden sollten, hatte noch keine Sinnlichkeit. 60 Da nun Gott ihm die Erfassung nicht nur der unkörperlichen Dinge, sondern auch der festen Körper gewähren wollte, füllte er die Seele ganz aus[1], indem er den anderen Teil dem zuvor gestalteten einfügte; und diesem gibt er den Zunamen „Weib“ und den Namen Eva, meint aber damit die Sinnlichkeit. 61 (19.) Sobald diese aber entstanden war, ergoss sie durch jeden ihrer Teile wie durch Oeffnungen eine Fülle von Licht in den Geist, zerstreute die Finsternis und setzte ihn in den Stand, in voller Klarheit und Deutlichkeit die Beschaffenheit
- ↑ Vgl. Allegor. Erklär. II § 24.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Sinnnlichkeit
: Ueber die Cherubim (De Cherubim) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1919, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonCherGermanCohn.djvu/021&oldid=- (Version vom 30.4.2018)