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Philon: Ueber die Cherubim (De Cherubim) übersetzt von Leopold Cohn

wenn aber ihr Treiben wie ein reissender Giessbach überallhin sich ausbreitet und in das Allerheiligste der Tempel mit Gewalt eindringt, dann wirft es alles Heilige darin gleich um, so dass sie ungeweihte Opfer und unerlaubte Opfertiere darbringen, unnütze Gebete verrichten, Weihen ohne Weihe vornehmen, unechte Frömmigkeit üben, Heiligkeit verfälschen, Reinheit unrein machen, Wahrheit zur Lüge, Gottesdienst zur Posse. 95 Und dazu noch säubern sie zwar ihren Körper durch Bäder und Reinigungsmittel, die Leidenschaften der Seele aber wegzuschaffen, durch die ihr Leben beschmutzt wird, haben sie weder den Willen noch das Bestreben. Und weissgekleidet, mit fleckenlosen Gewändern angetan eilen sie in die Tempel zu kommen, aber auch ihre sündenbefleckte Seele scheuen sie sich nicht in das Allerheiligste hineinzubringen. 96 Wenn eins von den Opfertieren nicht vollkommen fehlerlos befunden wird, treibt man es aus dem Tempelvorhof hinaus und lässt es nicht an die Altäre heranbringen, wiewohl es die durchweg körperlichen Schäden unabsichtlich aufweist; wenn sie aber an ihrer Seele geschädigt sind infolge schwerer Krankheiten, die die unbezwingliche Gewalt des Lasters über sie gebracht hat, mehr noch, wenn sie ganz verstümmelt und der besten Dinge verlustig gegangen sind, der Einsicht, Standhaftigkeit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und aller anderen Tugenden, die das Menschengeschlecht zu erlangen fähig ist, und wenn sie mit freiem Willen diese Schädigungen angenommen haben, wagen sie trotzdem heilige Handlungen zu verrichten in der Meinung, dass das Auge Gottes nur die äusseren Dinge mit Hilfe der Sonne wahrnimmt, nicht aber vor den sichtbaren Dingen die unsichtbaren durchschaut, da es selbst sein Licht ist. 97 Denn das Auge des Seienden bedarf nicht eines andern Lichts zum Erfassen (der Dinge), es ist selbst das urbildliche Licht[1] und sendet unzählige Strahlen aus, von denen aber keiner mit den Sinnen wahrnehmbar ist, sondern alle rein geistig sind; darum kann sie allein der rein geistige Gott anwenden, von den geschaffenen Wesen keines;


  1. Die Bezeichnung Gottes als Licht, Urlicht, Ursprung alles Lichts kommt bei Philo sehr häufig vor; vgl. besonders de somn. I § 75 (Zeller Philos. d. Gr. III 2⁴ 414 ff.).
Empfohlene Zitierweise:
: Ueber die Cherubim (De Cherubim) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1919, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonCherGermanCohn.djvu/030&oldid=- (Version vom 3.12.2016)