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Philon: Ueber den Dekalog (De decalogo) übersetzt von Leopold Treitel

Dingen ist der Eid; Gott aber zum Zeugen anzurufen für eine Lüge ist durchaus frevelhaft. Geh doch, wenn du willst, und schau einmal mit dem Auge des Geistes in die Seele dessen, der zum Falschschwören sich anschickt; du wirst sehen, dass sie nicht ruhig ist, sondern voll Unruhe und Aufregung, da sie Anklagen und allen Schmähungen und Beschimpfungen ausgesetzt ist. 87 Denn das jeder Seele angeborene und in ihr wohnende Gewissen, das nicht gewohnt ist etwas Unrechtes zuzulassen, das nur den Hass gegen das Schlechte und die Liebe zur Tugend kennt, ist Ankläger und Richter zugleich[1]; wenn es einmal geweckt ist, tritt es als Ankläger auf, beschuldigt, klagt an und beschämt; als Richter hinwiederum belehrt es, erteilt Zurechtweisung, mahnt zur Umkehr; und hat es überreden können, dann ist es erfreut und ausgesöhnt, konnte es das aber nicht, dann kämpft es unversöhnlich und gibt Tag und Nacht keine Ruhe, sondern versetzt unheilbare Stiche und Wunden, bis es das elende und fluchwürdige Leben vernichtet hat. 88 (18.) Was meinst du, würde ich zu einem Meineidigen sagen, wirst du es wagen zu einem deiner Bekannten zu gehen und ihm zu sagen; „mein Lieber, komm, bezeuge mir, was du weder gesehen noch gehört hast, wie wenn du es gesehen und gehört und alles genau verfolgt hattest“? ich glaube nicht, denn es wäre das eine Tat unheilbaren Wahnsinns. 89 Ja, mit welchen Augen willst du, wenn du nüchtern bist und bei dir zu sein glaubst, den Freund ansehen, dass du zu ihm sprächest: „um der Freundschaft willen tu das Unrecht, handle gegen das Gesetz, hilf mir bei meinem frevelhaften Tun“? Es ist doch klar, dass er, wenn er das hört, der vermeintlichen Freundschaft den Rücken kehren und sich selbst nur Vorwürfe machen wird darüber, dass er überhaupt mit einem solchen Manne Freundschaft gehalten hat; er wird entsetzt wie vor einem wilden, toll gewordenen Tiere davoneilen. 90 Nun, wozu du selbst den Freund nicht zu


  1. Philo weist, in Uebereinstimmung mit stoischer Anschauung, dem Gewissen die Rolle eines Anklägers und Richters in der Seele des Menschen an. Ganz ähnliche Ausdrücke gebraucht Polybius XVIII 43.
Empfohlene Zitierweise:
: Ueber den Dekalog (De decalogo) übersetzt von Leopold Treitel. Breslau: H. & M. Marcus, 1909, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonDecalGermanTreitel.djvu/024&oldid=- (Version vom 9.12.2016)