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Philon: Ueber den Dekalog (De decalogo) übersetzt von Leopold Treitel

beiden Abteilungen von je fünf Geboten gegeben hat; es ist nämlich das letzte der ersten Abteilung, in der die heiligsten Pflichten (gegen Gott) geboten werden, und schliesst sich zugleich an die zweite Abteilung an, die die Pflichten gegen Menschen umfasst. 107 Der Grund, meine ich, ist folgender: die Natur der Eltern steht gleichsam auf der Grenze zwischen unsterblichem und sterblichem Wesen, sterblichem [p. 199 M.] wegen der Verwandtschaft in leiblicher Vergänglichkeit mit Menschen und anderen lebenden Geschöpfen, unsterblichem wegen der Aehnlichkeit im Erzeugen mit Gott, dem Erzeuger des Alls. 108 Es haben nun manche sich ganz dem einen Teil der Gebote zugewandt und den andern ganz vernachlässigen zu dürfen gemeint: erfüllt von der reinsten Liebe zur Frömmigkeit haben sie allen anderen Geschäften den Rücken gekehrt und ihr eigenes Leben ganz dem Dienste Gottes geweiht. 109 Andere wieder halten nichts anderes für gut als die Pflichten gegen Menschen und lieben deshalb allein den Umgang mit Menschen, sie lassen in ihrem Verlangen nach inniger Gemeinschaft alle Menschen in gleicher Weise ihre Güter mitgeniessen und suchen ihnen in ihrer Not nach Kräften Erleichterung zu verschaffen. 110 Diese dürfte man mit Recht Menschenfreunde, erstere dagegen Gottesfreunde nennen; beide aber besitzen nur die halbe Tugend, denn vollkommen sind die nur, die sich nach beiden Richtungen auszeichnen. Die aber, die weder in ihren Beziehungen zu den Menschen sich bewahren, dadurch dass sie sich mitfreuen am gemeinsamen Glück und Leid mitfühlen bei dem Gegenteil, noch auch fromme Gesinnung gegen Gott bekunden, diese könnten fast in Tiernatur verwandelt erscheinen, eine Verwilderung der Sitten, die sich am schlimmsten bei denen zeigt, die keine Rücksicht gegen Eltern kennen, die sich also nach beiden Seiten feindlich gesinnt zeigen, gegen Gott und gegen die Menschen. 111 (23.) Vor zwei Richterstühlen also, die es allein auf Erden gibt, werden sie — das sollen sie wohl wissen — schuldig gefunden, schuldig der Gottlosigkeit in dem göttlichen Gericht, da sie die, welche sie aus dem Nichtsein ins Sein hinübergeführt und solcherweise Gott nachgeahmt haben, nicht ehren, und schuldig der Feindschaft gegen die

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: Ueber den Dekalog (De decalogo) übersetzt von Leopold Treitel. Breslau: H. & M. Marcus, 1909, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonDecalGermanTreitel.djvu/029&oldid=- (Version vom 9.12.2016)