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Philon: Ueber Belohnungen und Strafen (De praemiis et poenis) übersetzt von Leopold Cohn

Bösen bedrohte. 69 Welche Strafe hätte nun der verdient, der mit einer Tat das Schlimmste an Gewalt und Frevel verübte? Man wird wohl sagen: den Tod. Das wäre der Gedanke eines Menschen, der den grossen Richterstuhl nicht sieht; die Menschen halten nämlich den Tod für die höchste Strafe, vor dem göttlichen Gericht aber ist der Tod kaum der Anfang der Strafen. 70 Da die Tat neu war, musste auch eine neue Strafart dafür ausfindig gemacht werden. Worin besteht diese? er soll sterbend immerfort leben und gewissermassen einen ewigen, nie endenden Tod erleiden. Der Tod ist nämlich zwiefacher Art: die eine besteht in dem Totsein, das entweder ein Glück oder eine gleichgültige Sache ist, die andere im Sterben, das sicher ein Uebel ist und um so schwerer zu ertragen, je länger es dauert. 71 Erwäge nun, inwiefern der Tod beständig bei ihm ist. Vier Affekte sind in der Seele vorhanden, von denen zwei sich auf ein gegenwärtiges oder künftiges Gut beziehen, Lust und Begierde, zwei auf ein gegenwärtiges oder erwartetes Uebel, Trauer und Furcht. Die beiden auf das Gut sich beziehenden Empfindungen schnitt ihm Gott nun vollständig ab, sodass er sich niemals über etwas ihm zufällig Begegnendes freuen und niemals etwas Angenehmes begehren sollte, und pflanzte ihm dagegen die beiden Empfindungen des Uebels tief ins Herz, sodass er in steter Trauer ohne jede Freude und in ununterbrochener Furcht leben sollte. 72 Denn es heisst, dass er über den Brudermörder den Fluch aussprach, „er solle beständig klagen und zittern“ [p. 420 M.] (1 Mos. 4,12)[1], und „dass er ein Kennzeichen für ihn bestimmte, damit er von keinem getötet werde“ (ebd. V. 15): er sollte nicht auf einmal sterben, sondern sterbend, wie gesagt, ewig leben in beständigen Schmerzen, Qualen und Leiden; er sollte auch — was das allerschlimmste ist — die Empfindung haben von seinem Unglück, er sollte Verdruss empfinden über gegenwärtiges Missgeschick und künftiges, auch wenn er dessen Herankommen voraussieht, nicht zu verhüten imstande sein, da ihm jede Hoffnung abgeschnitten war, die Gott den Menschen eingepflanzt hat, damit sie ein Trostmittel bei sich hätten,


  1. Die Septuaginta übersetzt נע ונד‎ durch στένων καὶ τρέμων.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber Belohnungen und Strafen (De praemiis et poenis) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonPraemGermanCohn.djvu/022&oldid=- (Version vom 2.10.2017)