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Philon: Ueber Belohnungen und Strafen (De praemiis et poenis) übersetzt von Leopold Cohn

die Glut, sodass nichts mehr übrig bleiben wird, was zum Verderben gereichen kann (5 Mos. 28,24). Vielköpfige Familien werden aussterben, die Städte werden plötzlich leer von Bewohnern werden (3 Mos. 26,31) und als Denkmäler früheren Glückes und augenblicklichen Unglücks zur Warnung bleiben für solche, die Belehrung anzunehmen imstande sind. 134 (3.) So gross wird aber der Mangel an den notwendigen Lebensmitteln sein, dass sie diese ganz aufgeben und dazu übergehen werden, einander aufzuessen, und zwar nicht nur Fremde und Nichtangehörige, sondern auch die nächsten Verwandten und besten Freunde: greifen wird der Vater nach dem Fleisch des Sohnes, die Mutter nach den Eingeweiden der Tochter, Brüder nach den Brüdern und Kinder nach den Eltern (3 Mos. 26,29. 5 Mos. 28,53); immer werden die Schwächeren die grausige, verwünschte Nahrung der Stärkeren sein; „die Mahlzeiten des Thyestes“[1] sind ein Kinderspiel im Vergleich mit den entsetzlichen Zuständen, die jene Zeiten herbeiführen werden. 135 Denn abgesehen von allem anderen, — wie denen, die sich im Glücke befinden, das Leben begehrenswert ist, um das Gute geniessen zu können, ebenso wird auch bei jenen Unglückseligen ein starkes Verlangen bestehen zu leben, um die masslosen, unaufhörlichen, nie zu beseitigenden Leiden auszukosten. Denn es macht weniger Schwierigkeit, in der Verzweiflung die Leiden durch den Tod abzukürzen, was auch die nicht ganz Verblendeten zu tun pflegen. Jene aber werden in ihrem Wahnsinn sich ein langes Leben wünschen und im Ertragen des höchsten Unglücks unersättlich sein. 136 Solche Verhältnisse pflegt die Not, die das leichteste Uebel zu sein scheint, dann zu schaffen, wenn sie als göttliche Strafe verhängt wird; denn lästig sind zwar Kälte, Durst und Nahrungsmangel, aber sie können zu Zeiten ganz erwünscht sein, wenn sie nur auf der Stelle zur Vernichtung führen; wenn sie aber lange anhalten und Seele und Körper langsam


  1. Nach der griechischen Sage (Aesch. Agam. 1583 ff.) schlachtete Atreus, der Vater des Agamemnon, heimtückischer Weise die beiden kleinen Söhne seines Bruders Thyestes und setzte das Fleisch dem Bruder zum Mahle vor. „Thyesteische Mahle“ (τὰ Θυέστεια) waren daher sprichwörtlich.
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Philon: Ueber Belohnungen und Strafen (De praemiis et poenis) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 416. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonPraemGermanCohn.djvu/038&oldid=- (Version vom 4.10.2017)