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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

die man eigentlich (richtiger) „Keckheit“ nennen könnte; es verhält sich damit wie mit der gefälschten Münze, die man auch als einem wahren Bilde ähnlich bezeichnet.

5 (2.) Es gibt aber noch viele andere Dinge im menschlichen Leben, die nach übereinstimmender Ansicht schwer zu ertragen sind: Armut, geringes Ansehen, Blindheit und mannigfache Arten von Krankheiten. Diesen gegenüber werden die Schwachsinnigen mutlos und können sich vor Verzagtheit gar nicht aufraffen; die aber, die von Einsicht und wackerer Gesinnung erfüllt sind, kämpfen gegen sie an und widersetzen sich ihnen tapfer und kräftig, lachen und spotten ihrer Drohungen und Schrecknisse: der Armut stellen sie den Reichtum entgegen, nicht den blinden, sondern den scharfblickenden[1], dessen Schmucksachen und Kostbarkeiten die Seele bei sich bewahrt. 6 Die Armut nämlich hat schon viele niedergeworfen, die nach Art erschöpfter Ringkämpfer durch ihr unmännliches Wesen verweichlicht hinsanken. Arm ist aber nach dem Richterspruch der Wahrheit eigentlich keiner, da jedem der unzerstörbare Reichtum der Natur zur Verfügung steht: die Luft, die erste, unentbehrlichste und beständige Nahrung, die ununterbrochen Tag und Nacht eingeatmet wird, sodann Quellen in reicher Menge und immer fliessendes Wasser von Bergströmen und Quellflüssen zum Trinken, endlich zur Speise die Mengen verschiedener Erdfrüchte und alle Arten von Bäumen, die alljährlich immer ihre Ernte liefern. An diesen Dingen leidet niemand Mangel, alle vielmehr haben überall grossen Ueberfluss daran[2]. 7 Wenn aber manche diesen Reichtum der Natur für nichts achten und dem Reichtum ihrer eitlen Wahnvorstellungen nachjagen, so stützen sie sich auf einen Blinden statt auf einen Sehenden, benützen als Wegführer einen Geblendeten und müssen daher mit Notwendigkeit fallen. 8 (3). Es ist der den Körper schützende Reichtum, eine Erfindung und ein Geschenk der Natur, über den wir eben gesprochen haben. Wir müssen aber auch von dem edleren sprechen, der


  1. Vgl. Ueber Abraham § 25 Anm.
  2. Nach stoisch-kynischer Lehre braucht der Weise zur Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse nur die Dinge, welche die Natur bietet: vgl. Arnim, Stoic. veterum fragm. III 705 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/009&oldid=- (Version vom 31.10.2017)