Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/010

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

nicht allen, sondern nur den wahrhaft ehrwürdigen und gottbegnadeten Männern zuteil wird. Diesen Reichtum beschert die Weisheit durch die Grundsätze und Lehren der [377 M.] Logik, Ethik und Physik, aus denen die Tugenden hervorgehen, die der Seele den Hang zu grossem Aufwand nehmen und die Liebe zur Einfachheit und Genügsamkeit in ihr erzeugen, wodurch sie Gott ähnlich wird[1]. 9 Denn Gott ist bedürfnislos, er braucht nichts, sondern ist sich selbst durchaus genug. Der Unverständige[2] hat viele Bedürfnisse, er dürstet immer nach den Dingen, die nicht da sind, aus unstillbarer und unersättlicher Begierde, die er wie ein Feuer immer wieder anfacht und entzündet und auf alle Dinge, kleine wie grosse, hinlenkt. Der Weise[3] dagegen braucht wenig, er steht auf der Grenze zwischen unsterblicher und sterblicher Natur, er hat zwar Bedürfnisse wegen seines sterblichen Leibes, braucht aber nicht viel wegen der Seele, die nach Unsterblichkeit strebt. 10 So stellen sie der Armut den Reichtum entgegen. Ebenso dem geringen Ansehen den Ruhm; denn das Lob, das ja zum Ausgangspunkt die Tüchtigkeit hat und daraus wie aus einer nie versiegenden Quelle fliesst, wohnt nicht bei der Menge unerprobter Menschen, die das ungleichmässige Wesen ihrer Seele zu enthüllen pflegen durch ihre unzuverlässigen Stimmen, die sie bisweilen, ohne zu erröten, um schnöden Gewinn verkaufen gegen die auserwählten Besten. Die Zahl dieser ist aber gering; denn die Tugend ist nicht sehr weit verbreitet im sterblichen Geschlecht. 11 Der Blindheit der Sinne ferner, an der viele noch bei Lebzeiten gleichsam vorher gestorben sind, weil sie kein dagegen schützendes Heilmittel finden konnten, steht die Einsicht gegenüber, das Beste von allem in uns, die den Geist erleuchtet, die an Sehschärfe die leiblichen Augen in allem und jedem weit übertrifft. 12 Denn diese nehmen nur die Oberfläche der sichtbaren Dinge wahr


  1. Derselbe Gedanke bei Xenophon Memor. I 6,10 (aus kynischer Quelle); dort sagt Sokrates zu Antiphon: „du scheinst zu glauben, dass das Glück im Luxus und grossen Aufwand bestehe; ich aber meine, dass die Bedürfnislosigkeit der Gottheit zukommt, dass man aber, wenn man so wenig als möglich bedarf, der Gottheit sehr nahe kommt“.
  2. Wörtlich der „Schlechte“ und der „Gute“, die nach stoischer Ausdrucksweise gleichbedeutend sind mit dem „Toren“ und dem „Weisen“.
  3. Wörtlich der „Schlechte“ und der „Gute“, die nach stoischer Ausdrucksweise gleichbedeutend sind mit dem „Toren“ und dem „Weisen“.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/010&oldid=- (Version vom 31.10.2017)