Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn | |
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in Wahrheit aber sich eine in hohem Grade ekelhafte Nahrung zuzuführen. 127 Zu dem, der in seinem heiligen Staate leben will, spricht er etwa also: „Mein Lieber, du hast doch Ueberfluss genug an Dingen, die du geniessen kannst, ohne dass dich ein Tadel dafür trifft; sonst wäre dein Verhalten vielleicht verzeihlich, da Not und Mangel einen zwingt vieles zu tun, was nicht angenehm ist. Du aber hast die Pflicht, dich in Enthaltsamkeit und in den anderen Tugenden auszuzeichnen, da du in die schönste Klasse eingereiht bist und das gerade Gesetz der Natur[1] zum Befehlshaber hast; darum musst du von Milde erfüllt sein und darfst in deiner Seele nichts aufkommen lassen, was vom rechten Wege abweicht. 128 Was aber wäre verkehrter als zu den Geburtsschmerzen noch andere Schmerzen von aussen hinzuzufügen, dadurch dass man sofort die neugeborenen Jungen (von der Mutter) trennt? Bei der natürlichen Liebe der Mutter zu den Jungen muss sie ja bei ihrer Entfernung in Aufregung geraten, ganz besonders zur Zeit der Geburt, da doch die schwellenden Brüste, wenn der Säugling fehlt und der Zufluss der Milch zurückgedrängt wird, verhärtet und gespannt und durch den Druck der innen sich verdickenden Milch von Schmerzen gequält werden. 129 Schenke also, sagt er, der Mutter ihr Junges, wenn auch nicht für alle [397 M.] Zeit, so doch wenigstens die ersten sieben Tage, dass sie es mit ihrer Milch säuge, und lass nicht die Milchquellen, die die Natur in den Brüsten fliessen lässt, unnütz versiegen, wodurch du ihr zweites Gnadengeschenk vernichtest, das sie in ihrer grossen Fürsorge bereit hält, weil sie mit ihrer ewigen und vollkommenen Einsicht von langher die Folgen schaut. 130 Das erste Geschenk ist nämlich die Geburt, durch die das Nichtseiende ins Dasein gerufen wird, das zweite der Zufluss der Milch, eine angemessen weiche und jedes jugendlich zarte Wesen labende Nahrung, die zugleich Speise und Trank ist; denn die Flüssigkeit der Milch ist Getränk, und was davon dick wird, ist Speise. Diese Vorkehrungen hat die Natur in weiser Fürsorge getroffen, damit das Neugeborene nicht leide unter dem Mangel, der zu verschiedenen Zeiten immer droht, sondern
- ↑ das Natur- und Sittengesetz nach stoischer Terminologie.
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/039&oldid=- (Version vom 31.10.2017)