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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

Abkömmlinge hintreten und so sprechen: „Verwandtschaft wird nicht nach dem Blut allein gemessen, wo Wahrheit herrscht, sondern nach der Gleichheit im Handeln und nach dem Streben nach denselben Zielen. Ihr aber tut das Gegenteil, ihr haltet das, was mir lieb ist, für hassenswert und das, was [p. 439 M.] ich hasse, ist euch lieb. Denn bei mir werden Sittsamkeit, Wahrhaftigkeit, Mässigung in den Leidenschaften, Bescheidenheit und Unschuld geschätzt, bei euch werden sie verachtet; verhasst sind mir die Schamlosigkeit, die Lüge, die masslose Leidenschaft, der Hochmut, die Lasterhaftigkeit, euch sind sie vertraut. 196 Wenn ihr euch nun so in euren Werken mir entfremdet, wozu heuchelt ihr mit Worten „Verwandtschaft“ und nehmet euch diesen schönen Namen als Maske vor? Verdrehungen und in schöne Worte gekleidete Täuschungen ertrage ich nicht; denn leicht ist es für jedermann schön klingende Worte zu finden, schlechte Sitten aber gegen gute zu vertauschen ist nicht leicht. 197 Darauf achte ich und darum sehe ich für jetzt und in Zukunft als Feinde die Menschen an, die den Zündstoff der Feindschaft angefacht haben, und ich werde sie mehr verachten als die, denen man unedle Abstammung zum Vorwurf macht. Denn diese können sich damit rechtfertigen, dass sie im eigenen Hause kein Vorbild der Tugendhaftigkeit haben, ihr aber seid straffällig, die ihr aus grossen Häusern stammet, deren Stolz und Ruhm die glanzvollen Geschlechter sind; von den herrlichen Mustern, die bei euch wohnen und gewissermassen mit euch verwachsen sind, habt ihr euch nicht entschliessen können etwas Schönes euch anzueignen“.

198 Dass Moses wirklich den Adel von dem Besitz der Tugend abhängig macht und nur den für adlig hält, der sie besitzt, nicht aber jeden, der von braven und tüchtigen Eltern stammt, geht aus vielen Stellen klar hervor. 199 (3.) Wer möchte z. B. die Sprösslinge des erdgeborenen (Menschen)[1] nicht Söhne von Adligen und die Urahnen der Adligen nennen? Hatten sie doch eine im Vergleich mit den Späteren besonders bevorzugte Abstammung, da sie aus der ersten ehelichen Verbindung von Mann und Weib entsprossen sind, die damals


  1. Adams, der nach der h. Schrift von Gott aus Erde gebildet wurde.
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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 369. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/057&oldid=- (Version vom 1.8.2018)