Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/058

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

zuerst zu inniger Gemeinschaft sich verbanden zum Zwecke der Fortpflanzung ihrer Gattung. Dennoch hat der Aeltere von den beiden Söhnen, die ihnen geboren wurden, sich nicht gescheut den Jüngeren hinterlistig zu töten und durch Verübung der grössten Missetat, eines Brudermordes, zuerst mit Menschenblut die Erde befleckt. 200 Was nützte ihm also die adlige Geburt, da er die unedle Gesinnung seines Herzens an den Tag legte? Diese sah denn auch Gott, der über die menschlichen Handlungen wacht, deshalb zürnte er ihm, wandte sich mit Abscheu von ihm weg und verhängte Strafen über ihn, — nicht dass er ihn sofort tötete, damit er sein Unglück gar nicht empfinde, sondern er liess zahllose empfindliche Todesarten über ihm schweben durch rasch aufeinander folgende Leiden und Schrecken, um ihn sein trauriges Geschick recht fühlen zu lassen.

201 Später gab es unter den bewährtesten Menschen einen sehr frommen Mann[1], dessen Frömmigkeit der Gesetzgeber für würdig erachtete, dass sie in den heiligen Büchern verewigt werde. Dieser wird bei der grossen Sintflut, als ganze Städte in dem allgemeinen Verderben verschwanden, als selbst die höchsten Berge durch das gewaltige Anwachsen der reissenden [p. 440 M.] Wasserflut verschlungen wurden, ganz allein mit seinen Angehörigen gerettet und erhält so für seine Tugendhaftigkeit einen Lohn, wie man ihn grösser nicht finden kann. 202 Aber von den drei Söhnen, die diesem Manne geboren wurden und die dem Vater zuteil gewordene Gnade mitgenossen hatten, wagte es einer den Vater, den Urheber seiner Errettung, zu verspotten und dem Hohn und Gelächter preiszugeben, weil er absichtslos sich etwas vergangen hatte, und zur Schande für den Vater den Brüdern, die es nicht wussten, etwas zu enthüllen, was zu verbergen Pflicht war (1 Mos. 9,21 ff.). Daher hatte er keinen Nutzen von dem Glanze seiner adligen Abkunft, denn er wurde verflucht und ward so für seine Nachkommen der Urheber ihrer elenden Lage. Solche Strafe musste den treffen, der die Ehre der Eltern so missachtet hatte.


  1. Noah, von dem die Bibel sagt: „Noah war ein frommer, tadelloser Mann in seinem Zeitalter“ (1 Mos. 6,9).
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/058&oldid=- (Version vom 1.8.2018)