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fast lückenloser Vollständigkeit, ebensoviel verschiedene Auffassungen der sprachlichen Gesetze. Und hier handelt es sich nicht um eine äußerliche Übertragung, sondern um eine tiefere Gemeinsamkeit: um die Auswirkung bestimmter intellektueller Grundtendenzen der Zeit in ganz verschiedenen Problemkreisen.

Die Prinzipienlehre der exakten Naturwissenschaft, wie sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte, hat ihren prägnantesten Ausdruck in jenen berühmten Sätzen erhalten, mit denen Helmholtz seine Schrift „Über die Erhaltung der Kraft“ einleitet. Indem Helmholtz als Aufgabe dieser Schrift den Nachweis bezeichnet, daß alle Wirkungen in der Natur auf anziehende und abstoßende Kräfte zurückzuführen seien, deren Intensität nur von der Entfernung der auf einander wirkenden Punkte abhänge, will er diesen Satz nicht als ein bloßes Faktum aufstellen, sondern seine Geltung und Notwendigkeit aus der Form des Naturbegreifens selbst herleiten. Der Grundsatz, daß jede Veränderung in der Natur eine zureichende Ursache haben müsse, ist nach ihm nur dann wahrhaft erfüllt, wenn es gelingt, alles Geschehen auf letzte Ursachen zurückzuführen, welche nach einem schlechthin unveränderlichen Gesetz wirken, welche folglich zu jeder Zeit unter denselben äußeren Verhältnissen dieselbe Wirkung hervorbringen. Die Aufdeckung dieser letzten unveränderlichen Ursachen sei in jedem Fall das eigentliche Ziel der theoretischen Naturwissenschaften. „Ob nun wirklich alle Vorgänge auf solche zurückzuführen seien, ob also die Natur vollständig begreiflich sein müsse, oder ob es Veränderungen in ihr gebe, die sich dem Gesetze einer notwendigen Kausalität entziehen, die also in das Gebiet einer Spontaneität, Freiheit, fallen, ist hier nicht der Ort zu entscheiden; jedenfalls ist es klar, daß die Wissenschaft, deren Zweck es ist, die Natur zu begreifen, von der Voraussetzung ihrer Begreiflichkeit ausgehen müsse, und dieser Voraussetzung gemäß schließen und untersuchen, bis sie vielleicht durch unwiderlegliche Facta zur Anerkenntnis ihrer Schranken genötigt sein sollte[1].“ Wie diese Voraussetzung, daß die Begreiflichkeit der Natur mit ihrer durchgängigen Erklärbarkeit nach mechanischen Prinzipien zusammenfalle, vom Gebiet des „anorganischen“ Seins in das des organischen Geschehens übergriff, wie auch die beschreibende Naturwissenschaft von ihr ergriffen und vollständig beherrscht wurde, ist bekannt. Die „Grenzen des Naturerkennens“ fielen jetzt mit den Grenzen des mechanischen Weltbildes zusammen. Einen Vorgang der anorganischen oder organischen Natur erkennen hieß nichts anderes, als ihn in Elementarvorgänge,


  1. [1] Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft (1847); S. 2 f.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/129&oldid=- (Version vom 2.10.2022)