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Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/130

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und zuletzt in die Mechanik der Atome aufzulösen: was sich dieser Auflösung nicht fügt, das scheint für den menschlichen Geist und für alle menschliche Wissenschaft ein schlechthin transzendentes Problem bleiben zu müssen.

Denkt man sich diese Grundanschauung, die innerhalb der Naturwissenschaft am schärfsten in du Bois-Reymonds bekannter Rede „Über die Grenzen des Naturerkennens“ (1872) vertreten wurde, auf die Betrachtung der Sprache angewandt – so wird auch von einem Begreifen der Sprache nur dann die Rede sein können, wenn es gelingt, ihre komplexen Erscheinungen auf einfache Veränderungen letzter Elemente zu reduzieren und für diese Veränderungen allgemeingültige Regeln aufzustellen. Der älteren spekulativen Fassung des Gedankens des Sprachorganismus lag eine derartige Folgerung fern, denn gerade weil das organische Geschehen für sie zwischen Natur und Freiheit stand, schien es keiner absoluten Notwendigkeit unterworfen werden zu können, schien es zwischen verschiedenen Möglichkeiten stets einen gewissen Spielraum offen zu lassen. Bopp hatte gelegentlich ausdrücklich betont, daß man in der Sprache keine Gesetze suchen dürfe, die festeren Widerstand leisteten als die Ufer der Flüsse und Meere[1]. Hier herrscht der Goethesche Begriff des Organismus: die Sprache wird einer Regel unterworfen, die, nach dem Goetheschen Ausdruck, fest und ewig, aber zugleich lebendig ist. Jetzt aber, nachdem in der Naturwissenschaft selbst die Idee des Organismus völlig in den Begriff des Mechanismus aufgelöst schien, blieb für eine derartige Auffassung kein Raum mehr. Die ausnahmslose Gesetzlichkeit, die alles Werden der Sprache beherrscht, mag in den komplexen Erscheinungen noch so sehr verdunkelt erscheinen; aber in den eigentlichen Elementarvorgängen der Sprache, in den Erscheinungen des Lautwandels, muß sie unverhüllt hervortreten. „Läßt man beliebige zufällige, untereinander in keinen Zusammenhang zu bringende Abweichungen zu“ – so wird jetzt betont – „so erklärt man im Grunde damit, daß das Objekt der Untersuchung, die Sprache, der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht zugänglich ist[2]“. Wie man sieht, ist es auch hier eine allgemeine Voraussetzung über das Begreifen und die Begreiflichkeit überhaupt, ist es ein ganz bestimmtes Erkenntnisideal, von dem aus eine bestimmte Fassung der sprachlichen Gesetze gefordert wird. Seine schärfste Fassung hat dieses Postulat der Ausnahmslosigkeit der Elementargesetze in Brugmanns und Osthoffs „Morphologischen Untersuchungen“


  1. [1] Vgl. Delbrück, Einleit. in das Sprachstudium, S. 21.
  2. [2] Leskien, Die Deklination im Slawisch-Litauischen und Germanischen (1876).
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/130&oldid=- (Version vom 2.10.2022)