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Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/145

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werden die Worte der Sprache als „Nachahmungen“ bezeichnet, und von der menschlichen Stimme wird gesagt, daß sie das am meisten zur Nachahmung geeignete und gebildete Organ sei[1]. Aber dieser mimische Charakter des Wortes steht für ihn mit seinem reinen Symbolcharakter nicht im Gegensatz; vielmehr wird der letztere nicht minder energisch betont, indem hervorgehoben wird, daß der unartikulierte Empfindungslaut, wie er sich schon in der Tierwelt finde, nur dadurch zum Sprachlaut werde, daß er als Symbol verwendet wird[2]. Beide Bestimmungen vereinen sich miteinander dadurch, daß die „Nachahmung“ hier in jenem weiteren Sinne und in der tieferen Bedeutung gebraucht wird, nach der sie für Aristoteles nicht nur als Ursprung der Sprache, sondern auch als Ursprung der künstlerischen Tätigkeit erscheint. Die μίμησις gehört, in dieser Art verstanden, selbst bereits dem Gebiet der ποίησις, der schaffenden und gestaltenden Tätigkeit, an. Es handelt sich in ihr nicht mehr um die bloße Wiederholung eines äußerlich Gegebenen, sondern um einen freien geistigen Entwurf: das scheinbare „Nachbilden“ hat in Wahrheit ein inneres „Vorbilden“ zur Voraussetzung. Und in der Tat zeigt sich bei schärferer Betrachtung, daß dieses Moment, das in der Form der künstlerischen Gestaltung rein und selbständig hervortritt, bis in die elementaren Anfänge jeder scheinbar rein passiven Nachbildung herabreicht. Denn auch diese besteht ja niemals darin, einen bestimmten Wirklichkeitsinhalt Zug für Zug bloß nachzuzeichnen, sondern an ihm ein prägnantes Moment herauszuheben und damit einen charakteristischen „Umriß“ seiner Gestalt zu gewinnen. Damit aber befindet sich die Nachahmung selbst bereits auf dem Wege zur Darstellung, in welcher die Objekte nicht mehr einfach in ihrer fertigen Bildung hingenommen, sondern in der sie vom Bewußtsein nach ihren konstitutiven Grundzügen aufgebaut werden. Einen Gegenstand in diesem Sinne nachbilden heißt, ihn nicht bloß aus seinen einzelnen sinnlichen Merkmalen zusammensetzen, sondern ihn nach seinen Strukturverhältnissen erfassen, die sich nur dadurch wahrhaft verstehen lassen, daß das Bewußtsein sie konstruktiv erzeugt. Ansätze zu einer solchen höheren Form der Nachbildung bietet bereits die Gebärdensprache dar, sofern sie, in ihren entwickelten Bildungen, überall den


  1. [1] Cf. Aristoteles, Rhetor III, 1, 1404 a 20: τὰ γὰρ ὀνόματα μιμήματά ἐστιν, ὑπῆρξε δὲ καὶ ἡ φωνὴ πάντων μιμητικώτατον τῶν μορίων ἡμῖν.
  2. [2] Vgl. περὶ ἑρμηνείας cap. 2, 16 a 27: φύσει τῶν ὀνομάτων οὐδέν ἐστιν ἀλλ᾽ ὅταν γένηται σύμβολον ἐπεὶ δηλοῦσί γέ τι καὶ οἱ ἀγράμματοι ψόφοι, οἷον δηρίων, ὧν οὐδέν ἐστιν ὄνομα. Die bestimmte Unterscheidung zwischen „Nachahmung“ und „Symbol“ (ὁμοίωμα und σύμβολον) findet sich z. B. auch bei Ammonius im Commentar zu Aristotel. De interpretat f. 15 b (Scholia in Aristot. ed. Ac. reg. Boruss. p. 100).
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/145&oldid=- (Version vom 20.8.2021)