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Gebärden von der zweiten Grund- und Hauptklasse, von der Klasse der nachahmenden Gebärden ausgeht. Denn die Nachahmung bildet als solche bereits das Widerspiel zu jeglicher freien Form der geistigen Tätigkeit. In ihr bleibt das Ich im äußeren Eindruck und seiner Beschaffenheit befangen; je genauer es ihn, unter Ausschaltung aller eigener Spontaneität, wiederholt, um so vollkommener hat die Nachahmung ihren Zweck erreicht. Gerade die inhaltlich reichsten und differenziertesten Gebärdensprachen, die Gebärdensprachen der Naturvölker, zeigen diese Bindung am stärksten. Die Gebärdensprachen der Kulturvölker pflegen neben den unmittelbar-sinnlichen, nachahmenden Zeichen noch eine Fülle sogen. „symbolischer Gebärden“ zu enthalten, die den Gegenstand oder die Tätigkeit, die ausgedrückt werden soll, nicht direkt abbilden, sondern ihn nur mittelbar bezeichnen. Aber in ihnen – wie z. B. in der Sprache der Zisterziensermönche und in der von Jorio eingehend dargestellten neapolitanischen Gebärdensprache[1] – handelt es sich offenbar nicht um primitive Formen, sondern um sehr komplexe Gebilde, auf die die Form der Lautsprache bereits nachhaltig und bestimmend eingewirkt hat. Je weiter man dagegen auf den eigentlichen und selbständigen Gehalt der Gebärdensprache zurückgeht, um so mehr scheinen alle bloßen „Begriffszeichen“ zu schwinden und durch einfache „Dingzeichen“ ersetzt zu sein. Das Ideal einer rein „natürlichen“ Sprache, in der alle konventionelle Willkür ausgeschaltet ist, scheint daher hier erreicht. So wird z. B. von der Gebärdensprache der Indianer Nordamerikas berichtet, daß nur wenige Gesten ihrem Ursprung nach „konventionell“ seien; die weitaus meisten dagegen in der einfachen Wiedergabe offenkundiger natürlicher Phänomene bestünden[2]. Hebt man nur diesen Zug der pantomimischen Nachbildung gegebener sinnlich-wahrnehmbarer Objekte heraus, so scheint ein derartiges Verfahren noch gar nicht auf dem Wege zur Sprache, als einer freien und originalen Betätigung des Geistes zu sein. Hier muß indeß beachtet werden, daß ebensowohl die „Nachahmung“, wie die „Hinweisung“ – ebensowohl die „mimische“, wie die „deiktische“ Funktion – keine schlechthin einfache und überall gleichförmige Leistung des Bewußtseins darstellt, sondern daß sich, in der einen wie in der anderen, Elemente von verschiedener geistiger Herkunft und Bedeutung miteinander durchdringen. Auch bei Aristoteles


  1. [1] Andrea de Jorio, La Mimica degli antichi investigata nel Gestire Napolitano, Napoli 1832; zur Sprache der Zisterziensermönche s. Wundt, a. a. O., I, 151 ff.
  2. [2] Vgl. Mallery, Sign languages among North American Indians, Reports of the Bureau of Ethnology in Washington, I, 334.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/144&oldid=- (Version vom 21.8.2021)