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diese Art der unmittelbaren Lautmalerei zurücktritt, so gibt es doch keine noch so hoch entwickelte Kultursprache, die nicht mannigfache Beispiele von ihr bewahrt hätte. In auffallender Gleichförmigkeit finden sich bestimmte onomatopoetische Ausdrücke über alle Sprachen des Erdkreises verbreitet. Sie beweisen ihre Kraft nicht nur darin, daß sie, einmal gebildet, der Veränderung durch den Lautwandel und durch sonst allgemeingültige Lautgesetze widerstehen, sondern sie treten auch als Neuschöpfungen hervor, die sich unmittelbar im hellen Licht der Sprachgeschichte vollziehen[1]. Angesichts dieser Tatsachen ist es begreiflich, daß gerade die empirischen Sprachforscher vielfach geneigt gewesen sind, sich des in der Sprachphilosophie oft so hart gescholtenen Prinzips der Onomatopöie anzunehmen und eine, wenigstens bedingte, Ehrenrettung desselben zu versuchen[2]. Die Sprachphilosophie des 16. und 17. Jahrhunderts glaubte noch vielfach in den onomatopoetischen Bildungen den Schlüssel zu der Grund- und Ursprache der Menschheit, zu der „lingua adamica“, unmittelbar in der Hand zu haben. Heute ist freilich durch die kritischen Fortschritte sprachwissenschaftlicher Betrachtung der Traum dieser Ursprache mehr und mehr zerronnen; aber noch immer finden sich gelegentlich Versuche, den Nachweis zu führen, wie in den frühesten Perioden der Sprachbildung die Bedeutungsklassen und Lautklassen einander entsprachen, – wie das Ganze der Urworte in bestimmte Gruppen abgeteilt war, deren jede an bestimmte lautliche Materialien geknüpft und aus ihnen aufgebaut war[3]. Und auch dort, wo man nicht mehr die Hoffnung hegt, auf diesem Wege zu einer wirklichen Rekonstruktion der Ursprache zu gelangen, pflegt das Prinzip der Onomatopöie als ein Mittel anerkannt zu werden, vermöge dessen sich am ehesten von den relativ


    vgl. z. B. den Übergang von rein onomatopoetischen Lauten zu allgemeinen verbalen oder adverbialen Ausdrücken, den Boas aus dem Chinook anführt (Handbook of American Indian Languages, P. I, Washington 1911 (Smithson Inst. Bullet. 40), S. 575, 655 f.)

  1. [1] Eine Liste solcher relativ später onomatopoetischer Bildungen gibt für das Deutsche z. B. Hermann Paul, Prinz. der Sprachgeschichte ³, S. 160 f.; Beispiele aus dem Kreise der romanischen Sprachen s. z. B. bei Meyer-Lübke, Einf. in das Stud. der romanischen Sprachwissenschaft ², S. 91 ff.
  2. [2] S. z. B. Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 1868, S. 38.
  3. [3] So unterscheidet Täuber, Die Ursprache u. ihre Entwicklung (Globus, Bd. 97 (1910), S. 277 ff.), die sechs Hauptgruppen: flüssige Nahrung, feste Nahrung, atmosphärische Flüssigkeiten, Holz und Wald, Futter- und Tränkeplatz, Tierwelt und sucht nachzuweisen, daß sie in den verschiedensten Sprachen der Erde, z. B. im Sanskrit und im Hebräischen ursprünglich durch gleichartige Laute (m + Vocal; p-Laut + Vocal, n + Vocal, t-Laut + Vocal, l oder r, k-Laut + Vocal) bezeichnet wurden.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/154&oldid=- (Version vom 4.10.2022)