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Anschauung“, den die Erkenntniskritik als ein notwendiges Moment im Aufbau der Erkenntnis, als eine Bedingung des reinen Ichbegriffs, wie des reinen Gegenstandsbegriffs aufweist, hat daher in der Sprache sein genaues Gegenbild. Es sind auch hier die „Formen der Anschauung“, in deren Aufbau sich die Art und Richtung der in der Sprache waltenden, geistigen Synthesis zunächst bekundet, und nur durch das Medium dieser Formen hindurch, nur durch die Vermittlung der Anschauungen von Raum, Zeit und Zahl vermag die Sprache ihre wesentlich logische Leistung: die Gestaltung der Eindrücke zu Vorstellungen zu vollziehen.

Vor allem ist es die räumliche Anschauung, an der sich dieses Ineinander des sinnlichen und des geistigen Ausdrucks in der Sprache durchgehend beweist. Gerade in den allgemeinsten Ausdrücken, die die Sprache zur Bezeichnung geistiger Prozesse erschafft, tritt die entscheidende Mitwirkung der räumlichen Vorstellung aufs deutlichste hervor. Noch in den höchstentwickelten Sprachen begegnet diese „metaphorische“ Wiedergabe geistiger Bestimmungen durch räumliche. Wie sich im Deutschen dieser Zusammenhang in den Ausdrücken des Vorstellens und Verstehens, des Begreifens, des Begründens und Erörterns u. s. f. wirksam erweist[1], so kehrt er fast gleichartig nicht nur in den verwandten Sprachen des indogermanischen Kreises, sondern auch in völlig unabhängigen und weit entlegenen Sprachgebieten wieder. Insbesondere die Sprachen der Naturvölker sind überall durch die Genauigkeit ausgezeichnet, mit der sie alle räumlichen Bestimmungen und Unterschiede von Vorgängen und Tätigkeiten gleichsam unmittelbar malend und mimisch zum Ausdruck bringen. So kennen z. B. die amerikanischen Eingeborenensprachen nur selten irgendeine allgemeine Bezeichnung des Gehens, sondern sie besitzen statt dessen spezielle Ausdrücke für das aufwärts und abwärts gehen, sowie für die sonstigen mannigfachen Nuancen der Bewegung – und ebenso wird im Ausdruck der Ruhelage das Stehen unter- und oberhalb, innerhalb und außerhalb eines bestimmten Bezirks, das Stehen um etwas herum, das Stehen im Wasser, im Wald u. s. f. genau unterschieden und gesondert bezeichnet. Während die Sprache hier eine große Anzahl von Unterschieden, die wir am Verbum ausdrücken, ganz unbezeichnet läßt oder nur sehr geringes Gewicht auf sie legt, werden alle Bestimmungen des Ortes, der Lage und


  1. [1] „Begreifen geht, wie das einfache greifen, ursprünglich bloß auf die Berührung mit Händen und Füßen, Fingern und Zehen“ (Grimm, Dtsch. Wörterbuch I, Sp. 1307). – Über den räumlichen Grundsinn des Ausdrucks „erörtern“ vgl. Leibniz, Unvorgreifliche Gedanken betr. die Ausübung u. Verbesserung der teutschen Sprache § 54; s. auch Nouv. Essais III, Kap. 1.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/163&oldid=- (Version vom 7.10.2022)