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der Entfernung durch Partikeln von ursprünglich lokaler Bedeutung stets aufs sorgfältigste bezeichnet. Die Strenge und Genauigkeit, mit der diese Bezeichnung durchgeführt wird, wird von den Kennern dieser Sprachen oft geradezu als ihr fundamentales Prinzip und als ihr eigentlicher charakteristischer Grundzug angesehen[1]. Von den malayo-polynesischen Sprachen sagt Crawfurd, daß in ihnen die verschiedenen Stellungen des menschlichen Körpers so scharf unterschieden würden, daß ein Anatom, ein Maler oder Bildhauer daraus unmittelbar Nutzen ziehen könnte – im Javanischen z. B. werden 10 verschiedene Arten des Stehens und 20 des Sitzens durch je ein besonderes Wort wiedergegeben[2]. Ein Satz, wie unser Satz ‚der Mann ist krank‘ kann in verschiedenen amerikanischen Sprachen nur so ausgedrückt werden, daß in ihm mitbezeichnet wird, ob das Subjekt, auf das sich die Aussage bezieht, sich in größerer oder geringerer Entfernung vom Sprechenden oder Angesprochenen befindet, ob es für beide sichtbar oder nichtsichtbar ist; ebenso wird häufig der Ort, die Lage, die Stellung des Kranken durch die Form des Satzwortes angedeutet[3]. Hinter dieser Schärfe der räumlichen Charakteristik treten alle anderen Bestimmungen zurück oder sie kommen nur durch die Vermittlung von Ortsbestimmungen zur indirekten Darstellung. Dies gilt ebenso wie für die zeitlichen, auch für qualitative und modale Unterschiede. So steht z. B. der Zweck einer Handlung für die konkrete Anschauung stets in nächster Beziehung zu dem räumlichen Ziel, das sie sich setzt, und zu der Richtung, in der dies Ziel verfolgt wird: demgemäß wird häufig der „Finalis“ oder „Intentionalis“ des Verbums durch Zufügung einer Partikel gebildet, die eigentlich der Ortsbezeichnung dient[4].

In alledem offenbart sich ein gemeinsamer, auch erkenntniskritisch höchst bedeutsamer Zug des sprachlichen Denkens. Kant fordert, um die Anwendung der reinen Verstandsbegriffe auf die sinnlichen Anschauungen zu ermöglichen, ein Drittes, Mittleres, in welchem beide, obwohl


  1. [1] S. z. B. Boas über das Kwakiutl: „The rigidity with which location in relation to the speaker is expressed, both in nouns and verbs, is one of the fundamental features of the language“ (Handb. of Amer. Ind. Lang. I, 445); ganz ebenso urteilt Gatschet, Gramm. of the Klamath language, s. bes. S. 396 ff. 433 f., 460.
  2. [2] Crawfurd, History of the Indian Archipelago II, S. 9, vgl. Codrington, Melanesian languages S. 164 f.: Everything and everybody spoken of are viewed as coming or going or in some relation of place, in a way which to the European is by no means accustomed ore natural.“
  3. [3] Vgl. hrz. Boas, Handbook, S. 43 ff.; 446.
  4. [4] Beispiele hierfür bei Westermann, Die Sudansprachen, S. 72; Die Gola-Sprache in Liberia, Hamburg 1921, S. 62 u. a.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/164&oldid=- (Version vom 7.10.2022)