durchzuführen gesucht hat, findet vonseiten der Sprache keine Bestätigung. Hier zeigt sich vielmehr deutlich, daß es eine Bestimmung von anderer Art und gleichsam von einer höheren Dimension ist, die das Denken überhaupt, und das sprachliche Denken im besonderen, im Aufbau der Zeitvorstellung, in der Unterscheidung der Zeitrichtungen und Zeitstufen, zu vollziehen hat. Denn das „Hier“ und „Dort“ kann in weit einfacherer und weit unmittelbarerer Weise zu einer anschaulichen Einheit zusammengefaßt werden, als es bei den einzelnen Momenten der Zeit, bei dem Jetzt, bei den Früher und Später der Fall ist. Gerade dies kennzeichnet ja diese Momente als Zeitmomente, daß sie niemals gleich Dingen der objektiven Anschauung dem Bewußtsein zugleich und „zumal“ gegeben sind. Die Einheiten, die Teile, die sich in der räumlichen Anschauung wie von selbst zu einem Ganzen zu verbinden scheinen, schließen sich hier vielmehr aus: das Sein der einen Bestimmung bedeutet das Nicht-Sein der anderen und vice versa. Der Gehalt der Zeitvorstellung ist daher niemals in der unmittelbaren Anschauung beschlossen; sondern hier macht sich in noch weit stärkerem Maße, als es von der Raumvorstellung gilt, der entscheidende Anteil des verknüpfenden und trennenden, des analytischen und synthetischen Denkens geltend. Da die Elemente der Zeit als solche nur dadurch sind, daß das Bewußtsein sie durchläuft und in diesem Durchlaufen gegeneinander unterscheidet, so geht eben dieser Akt des Durchlaufens, dieser „discursus“, in die charakteristische Form des Zeitbegriffs selbst ein. Damit aber erscheint das „Sein“, das wir als das Sein des Nacheinander, als das Sein der Zeit bezeichnen, auf eine ganz andere Stufe der Idealität gehoben, als das bloß örtlich bestimmte Dasein. Die Sprache kann zu dieser Stufe nicht unmittelbar gelangen, sondern sie steht auch hier unter dem gleichen inneren Gesetz, das ihre gesamte Bildung und ihren Fortschritt beherrscht. Sie schafft nicht für jeden neuen Bedeutungskreis, der sich ihr erschließt, neue Mittel des Ausdrucks, sondern ihre Kraft besteht eben darin, daß sie ein bestimmtes gegebenes Material in verschiedener Weise zu gestalten, daß sie es, ohne es zunächst inhaltlich zu verändern, in den Dienst einer anderen Aufgabe zu stellen und ihm damit eine neue geistige Form aufzuprägen vermag.
Die Betrachtung des Verfahrens, das die Sprache bei der Bildung der ursprünglichen Raumworte anwendet, hat gezeigt, wie sie sich hierbei durchweg der einfachsten Mittel bedient. Die Umsetzung vom Sinnlichen ins Ideelle erfolgt hier überall so allmählich, daß sie als solche, als eine entscheidende Wendung der geistigen Gesamthaltung, anfangs kaum bemerkbar
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/183&oldid=- (Version vom 9.10.2022)