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wird. Aus einer eng begrenzten sinnlichen Materie, aus dem Unterschied in der Färbung der Vokale und aus der besonderen lautlichen und gefühlsmäßigen Beschaffenheit einzelner Konsonanten und Konsonantengruppen werden die Bezeichnungen für die örtlichen Gegensätze und für die Richtungsgegensätze im Raume geformt. Der gleiche Prozeß zeigt sich in der Entwicklung der Sprache von einer neuen Seite her, wenn wir die Art betrachten, in der sie zu ihren ursprünglichen Zeitpartikeln gelangt. Wie die Grenze zwischen den sinnlichen Natur- und Gefühlslauten und den einfachsten Raumworten als eine durchaus fließende Grenze erschien – so zeigt sich derselbe stetige und unmerkliche Übergang auch zwischen der sprachlichen Sphäre, die die örtlichen und derjenigen, die die zeitlichen Bestimmungen umfaßt. Noch in unseren modernen Kultursprachen bilden beide vielfach eine ungeschiedene Einheit: noch hier ist es eine sehr gewöhnliche Erscheinung, daß ein und dasselbe Wort für den Ausdruck räumlicher wie zeitlicher Verhältnisse gebraucht wird. Noch reichere Belege für diesen Zusammenhang bieten die Sprachen der Naturvölker dar, die in sehr vielen Fällen überhaupt kein anderes Bildungsmittel zum Ausdruck der Zeitvorstellung als dies zu besitzen scheinen. Die einfachen Ortsadverbia werden unterschiedslos auch im zeitlichen Sinne verwendet, so daß z. B. das Wort für „hier“ mit dem für „jetzt“, das für „dort“ mit dem für früher oder später zusammenfließt[1]. Man hat dies damit zu erklären gesucht, daß die räumliche und die zeitliche Nähe oder Ferne objektiv einander bedingen; daß das, was sich in räumlich entfernten Gegenden abgespielt hat, auch zeitlich in dem Augenblick, in dem von ihm gesprochen wird, ein Vergangenes und weit Zurückliegendes zu sein pflegt. Aber offenbar handelt es sich hierbei weniger um derartige reale und tatsächliche, als um rein ideelle Zusammenhänge – um eine Stufe des Bewußtseins, die noch relativ undifferenziert und gegen die spezifischen Unterschiede der Raum- und Zeitform als solche noch nicht empfindlich ist. Auch verhältnismäßig komplexe zeitliche Verhältnisse, für die die entwickelten Kultursprachen eigene Ausdrücke geschaffen haben, werden in den Sprachen der Naturvölker oft mit den primitivsten räumlichen Ausdrucksmitteln bezeichnet [2].


  1. [1] Vgl. hierfür die Beispiele aus der Klamath-Sprache bei Gatschet (a. a. O. S. 582 f.) u. aus den melanesischen Sprachen bei Codrington (a. a. O. S. 164 ff.).
  2. [2] Die Sudansprachen drücken den Umstand, daß ein Subjekt in einer Handlung begriffen ist, im allg. durch eine Wortfügung aus, die eigentlich besagt, daß es sich im Innern dieser Handlung befindet. Da aber auch dies „Innere“ meist ganz materiell bezeichnet wird, so ergeben sich Wendungen wie „ich bin Gehens Innerem, ich bin Gehens [169] Bauch“ für „ich bin im Gehen begriffen“. S. Westermann, Sudansprachen, S. 65, Gola-Sprache, S. 37, 43, 61.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/184&oldid=- (Version vom 9.10.2022)