Zum Inhalt springen

Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/200

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

nach der linken Hand kommt in entsprechender Weise die rechte an die Reihe; dann fängt man entweder wieder von vorne an oder man zählt, an der Erde hockend, an den Zehen weiter[1]. Im Nuba besteht die das Zählen beinahe immer begleitende Gebärde darin, daß man, bei eins beginnend, mit der rechten Hand zuerst den kleinen, dann den Ring-, Mittel- und Zeigefinger, endlich den Daumen der linken Hand in die Faust drückt und sodann dieselbe Geste mit der linken an der rechten Hand vollzieht. Bei der Zahl 20 werden die beiden Fäuste horizontal aneinander gedrückt[2]. Ebenso berichtet v. d. Steinen von den Bakairi, daß auch der einfachste Zählversuch mißlang, wenn das gezählte Objekt, z. B. eine Hand voll Maiskörner, der tastenden Hand nicht unmittelbar dargeboten wurde. „Die rechte Hand tastete … die linke Hand rechnete. Ohne die Finger der rechten Hand zu gebrauchen, nur nach einer Betrachtung der Körner an den Fingern der linken Hand zu zählen, war schon bei 3 Stück ganz unmöglich[3].“ Wie man sieht, genügt es hier nicht, daß die einzelnen gezählten Objekte auf die Teile des Körpers irgendwie bezogen werden, sondern sie müssen gleichsam unmittelbar in körperliche Teile und in Körpergefühle umgesetzt werden, damit der Akt der „Zählung“ an ihnen vonstatten gehen kann. Die Zahlworte bezeichnen daher nicht sowohl irgendwelche objektive Bestimmungen oder Verhältnisse der Gegenstände, als sie vielmehr gewisse Direktiven der körperlichen Bewegung des Zählens in sich schließen. Sie sind Ausdrücke und Anzeigen für die jeweilige Hand- oder Fingerstellung, die häufig in die Befehlsform des Verbums gekleidet sind. So bedeutet z. B. im Sotho das Wort für fünf eigentlich: „vollende die Hand“, das für sechs eigentlich „springe“, d. h. springe zur andern Hand über[4]. Dieser aktive Charakter der sogen. „Zahlworte“ tritt besonders deutlich in denjenigen Sprachen hervor, die ihre Zahlausdrücke dadurch bilden, daß sie die Art und Weise des Gruppierens, des Hinstellens und Aufstellens der Gegenstände, auf die sich die Zählung erstreckt, besonders bezeichnen. So verfügt z. B. die Klamath-Sprache über eine Fülle derartiger Bezeichnungen, die von Verben des Setzens, des Legens und Stellens gebildet sind und die je eine besondere Art der


  1. [1] Westermann, Ewe-Grammalik, S. 80.
  2. [2] Reinisch, Nuba-Sprache, S. 36 f.
  3. [3] v. d. Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, S. 84 ff.
  4. [4] Vgl. Meinhof, Bantugrammatik, S. 58; ähnliche Beispiele aus dem Gebiet der Papuasprachen bei Ray, Torres-Expedition, S. 373 u. ö. In der Sprache der Eskimo wird das Zahlwort für 20 durch einen Satz „ein Mann ist vollendet“ (d. h. alle seine Finger und Zehen gezählt) wiedergegeben, s. W. Thalbitzer, Eskimo (in Boas Handbook I, S. 1047).
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/200&oldid=- (Version vom 28.10.2022)