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Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/226

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Analyse und Beurteilung der Kindersprache ist man oft dem Irrtum verfallen, in dem ersten Auftreten des Ichlautes auch die primäre und früheste Stufe des Ichgefühls zu sehen. Aber darin ist übersehen, daß der innere seelisch-geistige Gehalt und seine sprachliche Ausdrucksform sich niemals schlechthin decken, und daß insbesondere die Einheit dieses Gehalts sich keineswegs in der Einfachheit des Ausdrucks zu spiegeln braucht. Die Sprache verfügt vielmehr, um eine bestimmte Grundanschauung zu vermitteln und darzustellen, über eine Fülle verschiedenartiger Ausdrucksmittel, und erst aus der Gesamtheit und dem Zusammenwirken derselben wird die Richtung der Bestimmung, die sie innehält, deutlich erkennbar. Die Gestaltung des Ichbegriffs ist daher nicht an das Pronomen gebunden, sondern sie erfolgt ebenso sehr durch andere sprachliche Sphären, wie z. B. durch das Medium des Nomen und durch das Medium des Verbum hindurch. Insbesondere an diesem letzteren können die feinsten Besonderungen und Nuancierungen des Ichgefühls sich ausprägen, da im Verbum die objektive Vorgangsauffassung sich mit der subjektiven Auffassung des Tuns am eigentümlichsten durchdringt, und da in diesem Sinne die Verba sich, nach dem Ausdruck der chinesischen Grammatiker, als die eigentlich „lebenden Wörter“ von den Nomina als „toten Wörtern“ charakteristisch unterscheiden[1].

Zunächst freilich scheint auch der Ausdruck des Ich und des Selbst der Anlehnung an die nominale Sphäre, an das Gebiet der substantiell-gegenständlichen Anschauung zu bedürfen und sich von ihr nur schwer losreißen zu können. In den verschiedensten Sprachkreisen begegnen uns Ichbezeichnungen, die von gegenständlichen Bezeichnungen hergenommen sind. Insbesondere zeigt die Sprache, wie das konkrete Selbstgefühl anfangs noch völlig an die konkrete Anschauung des eigenen Leibes und seiner einzelnen Gliedmaßen gebunden bleibt. Es ergibt sich hier dasselbe Verhältnis, das uns im Ausdruck der räumlichen, der zeitlichen und der zahlenmäßigen Bestimmungen entgegentrat, die gleichfalls diese durchgehende Orientierung am physischen Dasein und insbesondere am menschlichen Körper zeigen. Vor allem sind es die altaischen Sprachen, in denen sich dieses System der Ichbezeichnung sehr deutlich ausprägt. Alle Zweige dieses Sprachstammes zeigen eine Neigung, das, was wir durch die persönlichen Fürwörter ausdrücken, durch Nomina, die mit Kasusendungen oder auch mit Possessivsuffixen versehen sind, zu bezeichnen. Die Ausdrücke für ‚ich‘ oder ‚mich‘ werden daher durch andere, die etwa mein Sein, mein Wesen oder auch in „drastisch-materieller Weise“, ‚mein


  1. [1] Vgl. hrz. G. v. d. Gabelentz, Chines. Grammatik, S. 112 f.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/226&oldid=- (Version vom 10.12.2022)