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hinzutritt, welches seine Beziehung zu anderen sprachlichen Gebilden kenntlich macht. Eine derartige, durch ein bestimmtes klassifikatorisches Suffix zusammengehaltene Gruppe liegt z. B. in den indogermanischen Verwandtschaftsnamen: in den Namen für Vater und Mutter, Bruder, Schwester und Tochter vor. Die gemeinsame Endung -tar (ter), die in ihnen auftritt (pitár, mātár, bhrā́tar, svásar, duhitár πατὴρ, μήτηρ, φράτωρ, θυγάτηρ u. s. f.), verbindet diese Namen zu einer in sich geschlossenen Reihe und stempelt sie damit zu Ausprägungen ein und desselben „Begriffs“ – der jedoch nicht als eine selbständige und ablösbare Einheit außerhalb der Reihe selbst besteht, sondern dessen Bedeutung eben in dieser Funktion der Zusammenfassung der Einzelglieder der Reihe aufgeht. Aber es wäre irrig, wenn man aus diesem Grunde die Leistung, die die Sprache hier vollzogen hat, nicht als eine gedankliche, als eine, im strengen Sinne logische Leistung gelten lassen wollte. Denn die logische Theorie des Begriffs weist deutlich darauf hin, daß der „Reihenbegriff“ dem „Gattungsbegriff“ an Kraft und Bedeutsamkeit nicht nachsteht, ja daß er ein wesentliches Moment und einen integrierenden Bestand des Gattungsbegriffs selbst ausmacht[1]. Hält man sich dies gegenwärtig, so tritt das Prinzip, das in diesen Bildungen der Sprache waltet, alsbald in seiner ganzen Bedeutung und Fruchtbarkeit hervor. Man wird dem geistigen Gehalt dieses Prinzips nicht völlig gerecht, wenn man diese Bildungen damit erklärt zu haben glaubt, daß man sie auf das psychologische Gesetz der bloßen Ähnlichkeitsassoziation zurückleitet. Der zufällige Verlauf der Assoziationen, der von Fall zu Fall, von Individuum zu Individuum verschieden ist, genügt so wenig, den Grund und Ursprung der sprachlichen, wie den der rein logischen, der Erkenntnisbegriffe, verständlich zu machen. „Die psychologisch einzig mögliche Weise, sich den Vorgang der Bildung der indogermanischen Verwandtschaftsnamen zu denken,“ – so bemerkt Wundt – „besteht darin, daß von der Bildung eines Verwandtschaftsnamens zu der eines anderen eine Assoziation der beiden Vorstellungen und der sie begleitenden Gefühle herüberreichte, welche eine Angleichung derjenigen Lautelemente des Wortes bewirkte, die nicht dem Ausdruck des besonderen Inhaltes der Vorstellung dienten. Auf dem Wege der successiven assoziativen Angleichung also, nicht auf dem der simultanen Bildung übereinstimmender Begriffszeichen kann allein ein solches einer Klasse von Vorstellungen gemeinsames determinierendes Lautzeichen entstanden sein, und der Begriff der Zusammengehörigkeit


  1. [1] Näheres hierüber in m. Schrift „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“, bes. Kap. 1 und 4.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/278&oldid=- (Version vom 7.3.2023)