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– nicht lediglich in der Absicht, jede von ihnen gesondert zu verfolgen oder sie im Ganzen zu überblicken, sondern mit der Voraussetzung, daß es möglich sein müsse, sie auf einen einheitlichen Mittelpunkt, auf ein ideelles Zentrum zu beziehen. Dieses Zentrum aber kann, kritisch betrachtet, niemals in einem gegebenen Sein, sondern nur in einer gemeinsamen Aufgabe liegen. Die verschiedenen Erzeugnisse der geistigen Kultur, die Sprache, die wissenschaftliche Erkenntnis, der Mythos, die Kunst, die Religion werden so, bei all ihrer inneren Verschiedenheit, zu Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhangs, – zu mannigfachen Ansätzen, die alle auf das eine Ziel bezogen sind, die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden.

Denn wie die moderne Sprachphilosophie, um den eigentlichen Ansatzpunkt für eine philosophische Betrachtung der Sprache zu finden, den Begriff der „inneren Sprachform“ aufgestellt hat – so läßt sich sagen, daß eine analoge „innere Form“ auch für die Religion und den Mythos, für die Kunst und für die wissenschaftliche Erkenntnis vorauszusetzen und zu suchen ist. Und diese Form bedeutet nicht lediglich die Summe oder die nachträgliche Zusammenfassung der Einzelerscheinungen dieser Gebiete, sondern das bedingende Gesetz ihres Aufbaus. Freilich gibt es zuletzt keinen anderen Weg, sich dieses Gesetzes zu versichern, als daß wir es an den Erscheinungen selbst aufzeigen und es von ihnen „abstrahieren“; aber eben diese Abstraktion erweist es zugleich als ein notwendiges und konstitutives Moment für den inhaltlichen Bestand des Einzelnen. Die Philosophie ist sich im Verlauf ihrer Geschichte der Aufgabe einer solchen Analyse und Kritik der besonderen Kulturformen immer mehr oder weniger bewußt geblieben; aber sie hat zumeist nur Teile dieser Aufgabe, und zwar mehr in negativer als in positiver Absicht, direkt in Angriff genommen. Ihr Bestreben ging in dieser Kritik häufig weniger auf die Darstellung und Begründung der positiven Leistungen jeder Einzelform, als auf die Abwehr falscher Ansprüche. Seit den Tagen der griechischen Sophistik gibt es eine skeptische Sprachkritik, wie es eine skeptische Mythenkritik und Erkenntniskritik gibt. Diese wesentlich negative Einstellung wird verständlich, wenn man erwägt, daß in der Tat jeder Grundform des Geistes, indem sie auftritt und sich entwickelt, das Bestreben eigen ist, sich nicht als einen Teil, sondern als ein Ganzes zu geben und somit statt einer bloß relativen eine absolute Geltung für sich in Anspruch zu nehmen. Sie bescheidet sich nicht innerhalb ihres besonderen Bezirks, sondern sie sucht die eigentümliche Prägung, die sie mit

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/28&oldid=- (Version vom 4.8.2020)