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sich führt, der Gesamtheit des Seins und des geistigen Lebens aufzudrücken. Aus diesem Streben zum Unbedingten, das jeder Einzelrichtung innewohnt, ergeben sich die Konflikte der Kultur und die Antinomien des Kulturbegriffs. Die Wissenschaft entsteht in einer Form der Betrachtung, die, bevor sie einsetzen und sich durchsetzen kann, überall gezwungen ist, an jene ersten Verbindungen und Trennungen des Denkens anzuknüpfen, die in der Sprache und in den sprachlichen Allgemeinbegriffen ihren ersten Ausdruck und Niederschlag gefunden haben. Aber indem sie die Sprache als Material und Grundlage benutzt, schreitet sie zugleich notwendig über sie hinaus. Ein neuer „Logos“, der von einem anderen Prinzip als dem des sprachlichen Denkens geleitet und beherrscht wird, tritt nun hervor und bildet sich immer schärfer, immer selbständiger aus. Und an ihm gemessen, erscheinen nun die Bildungen der Sprache nur noch wie Hemmungen und Schranken, die durch die Kraft und Eigenart des neuen Prinzips fortschreitend überwunden werden müssen. Die Kritik der Sprache und der sprachlichen Denkform wird zu einem integrierenden Bestand des vordringenden wissenschaftlichen und philosophischen Denkens. Und auch in den übrigen Gebieten wiederholt sich dieser typische Gang der Entwicklung. Die einzelnen geistigen Richtungen treten nicht, um einander zu ergänzen, friedlich nebeneinander, sondern jede wird zu dem, was sie ist, erst dadurch, daß sie gegen die anderen und im Kampf mit den anderen die ihr eigentümliche Kraft erweist. Die Religion und die Kunst stehen in ihrem rein geschichtlichen Wirken einander so nahe und durchdringen sich derart, daß beide bisweilen auch ihrem Gehalt und dem inneren Prinzip des Bildens nach ununterscheidbar zu werden scheinen. Von den Göttern Griechenlands hat man gesagt, daß sie Homer und Hesiod ihre Entstehung verdanken. Und doch scheidet sich andererseits gerade das religiöse Denken der Griechen in seinem weiteren Fortgang immer bestimmter von diesem seinem ästhetischen Anfang und Urgrund. Immer entschiedener lehnt es sich seit Xenophanes gegen den mythisch-dichterischen und gegen den sinnlich-plastischen Gottesbegriff auf, den es als Anthropomorphismus erkennt und verwirft. In derartigen geistigen Kämpfen und Konflikten, wie sie sich in der Geschichte in immer neuer Potenzierung und Steigerung darstellen, scheint von der Philosophie als der höchsten Einheitsinstanz die alleinige letzte Entscheidung zu erwarten zu sein. Aber die dogmatischen Systeme der Metaphysik befriedigen diese Erwartung und Forderung nur unvollkommen. Denn sie selbst stehen zumeist noch mitten in dem Kampfe, der sich hier vollzieht, nicht über ihm: sie vertreten trotz

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/29&oldid=- (Version vom 4.8.2020)