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aller begrifflichen Universalität, nach der sie streben, nur eine Seite des Gegensatzes, statt diesen selbst in seiner ganzen Weite und Tiefe zu begreifen und zu vermitteln. Denn sie selbst sind zumeist nichts anderes als metaphysische Hypostasen eines bestimmten logischen oder ästhetischen oder religiösen Prinzips. Je mehr sie sich in die abstrakte Allgemeinheit dieses Prinzips einschließen, um so mehr schließen sie sich damit gegen einzelne Seiten der geistigen Kultur und gegen die konkrete Totalität ihrer Formen ab. Der Gefahr eines derartigen Abschlusses vermöchte die philosophische Betrachtung nur dann zu entgehen, wenn es ihr gelänge, einen Standpunkt zu finden, der über all diesen Formen und der doch andererseits nicht schlechthin jenseits von ihnen liegt: – einen Standpunkt, der es ermöglichte, das Ganze derselben mit einem Blicke zu umfassen und der in diesem Blicke doch nichts anderes sichtbar zu machen versuchte, als das rein immanente Verhältnis, das alle diese Formen zueinander, nicht das Verhältnis, das sie zu einem äußeren, „transzendenten“ Sein oder Prinzip haben. Dann erstünde eine philosophische Systematik des Geistes, in der jede besondere Form ihren Sinn rein durch die Stelle, an der sie steht, erhalten würde, in der ihr Gehalt und ihre Bedeutung durch den Reichtum und die Eigenart der Beziehungen und Verflechtungen bezeichnet würde, in welchen sie mit anderen geistigen Energien und schließlich mit deren Allheit steht.

An Versuchen und Ansätzen zu einer derartigen Systematik hat es seit den Anfängen der neueren Philosophie und seit der Grundlegung des modernen philosophischen Idealismus nicht gefehlt. Schon Descartes’ methodische Programmschrift, schon die „Regulae ad directionem ingenii“ weisen zwar den Versuch der alten Metaphysik, die Gesamtheit der Dinge zu überblicken und in die letzten Geheimnisse der Natur eindringen zu wollen, als vergeblich ab, aber um so nachdrücklicher bestehen sie darauf, daß es möglich sein müsse, die „universitas“ des Geistes gedanklich zu erschöpfen und auszumessen. „Ingenii limites definire“ das Gesamtgebiet und die Grenzen des Geistes zu bestimmen: dieser Wahlspruch Descartes’ wird nunmehr zum Leitwort der gesamten neueren Philosophie. Aber der Begriff des „Geistes“ ist hierbei in sich selbst noch zwiespältig und zweideutig, da er bald im engeren, bald im weiteren Sinne gebraucht wird. Wie die Philosophie Descartes’ von einem neuen umfassenden Begriff des Bewußtseins ausgeht, dann aber diesen Begriff, im Ausdruck der cogitatio, wieder mit dem reinen Denken zusammenfallen läßt – so fällt für Descartes und für den gesamten Rationalismus auch die Systematik des Geistes mit der des Denkens zusammen.

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/30&oldid=- (Version vom 4.8.2020)