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beider Kräfte entsteht das, was man die „Form“ jeder bestimmten Sprache nennt. Betrachtet man etwa die Form der sogen. „polysynthetischen“ Sprachen, so scheint hier der Trieb zur Verknüpfung bei weitem vorzuherrschen – ein Trieb, der sich vor allem in dem Bestreben ausdrückt, die funktionale Einheit des sprachlichen Sinnes auch material und äußerlich in einer zwar sehr komplexen, aber in sich geschlossenen Lautfügung darzustellen. Das Ganze des Sinnes wird in ein einziges Satz-Wort zusammengedrängt, in dem es nun gleichsam eingekapselt und wie von einer festen Schale umschlossen erscheint. Aber eben diese Einheit des Sprachausdrucks ist insofern noch nicht echte gedankliche Einheit, als sie nur auf Kosten der logischen Allgemeinheit eben dieses Ausdrucks gewonnen werden kann. Je mehr modifizierende Bestimmungen das Satzwort durch Einverleibung von ganzen Worten oder von einzelnen Partikeln in sich aufnimmt, um so mehr dient es der Bezeichnung einer besonderen konkreten Situation, die es in all ihren Einzelheiten auszuschöpfen sucht, die es aber mit anderen gleichartigen nicht zu einem umfassenden generellen Zusammenhang verknüpft[1]. Demgegenüber stellt sich z. B. in den flektierenden Sprachen ein ganz anderes Verhältnis der beiden Grundkräfte der Analysis und Synthesis, der Sonderung und Vereinigung dar. Hier enthält schon die Worteinheit selbst gleichsam eine innere Spannung und die Ausgleichung und Überwindung derselben. Das Wort baut sich aus zwei deutlich getrennten, zugleich aber unlöslich miteinander verknüpften und auf einander bezogenen Momenten auf. Einem Bestandteil, der rein der objektiven Bezeichnung des Begriffs dient, steht hier ein anderer gegenüber, der lediglich die Funktion erfüllt, das Wort in eine bestimmte Kategorie des Denkens zu versetzen, es als „Substantivum“, „Adjektivum“ oder „Verbum“ oder als „Subjekt“ oder näheres oder entfernteres Objekt zu kennzeichnen. Jetzt tritt der Beziehungsindex, kraft dessen das einzelne Wort mit der Gesamtheit des Satzes verknüpft wird, nicht mehr äußerlich an das Wort heran, sondern er verschmilzt mit ihm und wird zu einem seiner konstitutiven Elemente[2]. Die Differentiation


  1. [1] Vgl. hrz. was oben (S. 257 f.) über die Form der „Begriffsbildung“ in den amerikan. Sprachen ausgeführt wurde, s. auch S. 239 ff.
  2. [2] Daß übrigens dieser Prozeß selbst wieder sehr verschiedene Grade und Stufen zuläßt, und daß in dieser Hinsicht eine scharfe und absolute Grenzscheide zwischen den flektierenden und den sogen. agglutinierenden Sprachen nicht besteht, ist schon von Boethlingk in seiner Darstellung des Jakutischen (1851) betont worden. Boethlingk hebt hervor, daß zwar in den indogermanischen Sprachen im allgemeinen „Stoff“ und „Form“ weit inniger als in den sogen. agglutinierenden verbunden seien, daß aber in einigen Gliedern der ural-altaischen Sprachen, namentlich im Finnischen und Jakutischen, [282] beide keineswegs so äußerlich aneinanderkleben, wie vielfach angenommen worden sei. Auch hier finde vielmehr eine stetige Entwicklung zur „Formbildung“ statt, die sich in verschiedenen Sprachen, z. B. im Mongolischen, im Türkisch-Tatarischen und im Finnischen in ganz verschiedenen Phasen darstelle. (Die Sprache der Jakuten, Einl., S. XXIV; vgl. bes. Heinr. Winkler, Das Uralaltaische[WS 1] und seine Gruppen, S. 44 ff., über die „Morphologie“ der ural-altaischen Sprachen.)

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Uraltaische
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/297&oldid=- (Version vom 20.3.2023)