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Sein ohne Prädikat gesetzt drücke ganz etwas anderes aus als sein mit einem Prädikate: der Satz „A ist A“ behaupte nur, wenn A sei, so sei A; dagegen sei in ihm davon, ob überhaupt A sei oder nicht, gar nicht die Frage[1]. –

Wenn in dieser Weise selbst das philosophische Denken beständig mit der Unterscheidung zweier Seinsbegriffe zu ringen hat, – so ist es begreiflich, daß im sprachlichen Denken beide von Anfang an nur in engster Verflechtung miteinander auftreten, und daß es nur ganz allmählich gelingt, den reinen Sinn der Kopula aus dieser Verflechtung herauszulösen. Daß die Sprache ein und dasselbe Wort benutzt, um den Begriff der Existenz und um den der prädikativen Verbindung zu bezeichnen, ist eine weit verbreitete, nicht auf einzelne Sprachstämme beschränkte Erscheinung. Um hier nur das Indogermanische zu betrachten, so zeigt sich in ihm überall, daß die mannigfachen Bezeichnungen, die es zur Darstellung des prädikativen Seins verwendet, sämtlich auf die Urbedeutung des „Daseins“ zurückgehen: sei es, daß dieses letztere in ganz allgemeinem Sinne, als bloßes Vorhandensein, sei es, daß es in einem besonderen und konkreten Sinne, als Leben und Atmen, als Wachsen und Werden, als Dauern und Verweilen gefaßt wird. „Die Kopula“ – so sagt Brugmann hierüber – „war ursprünglich ein Verbum mit anschaulicher Bedeutung (die Grundbedeutung von *es-mi ‚ich bin‘ ist unbekannt, die älteste belegbare ist ‚ich existire‘) und das Substantiv oder Adjektiv war Apposition zum Subjekt, die mit dem Prädikatsverbum in innere Beziehung gesetzt war (die Erde ist eine Kugel = die Erde existiert als Kugel). Das sogen. Herabsinken des Verbums zur Kopula geschah dadurch, daß der Nachdruck auf das Prädikatsnomen rückte, so daß es auf den Vorstellungsinhalt des Verbums nicht mehr ankam und dieser sich verflüchtigte. Das Verbum wurde so bloßes Formwort … Als Kopula fungierte in uridg. Zeit sicher es- ‚sein‘, daneben vielleicht auch schon Formen von bheu- ‚wachsen, werden‘, das sich damals mit es- suppletiv verband[2][WS 1].“ Näher scheint die Differenzierung im Gebrauch beider Wurzeln so erfolgt zu sein, daß es (as) als Ausdruck der gleichmäßig fortgesetzten Existenz gefaßt und demgemäß für die Bildung der durativen Formen des Präsensstammes verwendet wurde, während die Wurzel bheu, als Ausdruck des Werdens, vorzugsweise in den Zeitformen zur Anwendung kam, welche wie der Aorist und das Perfekt ein eintretendes oder vollendetes Geschehen bezeichnen (vgl. ἔ-φυ-ν, πέ-φῡ-κα, fui)[2]. Die sinnliche


  1. [1] Cf. Fichte, S. W. I, 92 f.
  2. a b [2] S. Brugmann, Kurze vgl. Grammat., S. 627; Curtius, Grundz. der griech. Etymologie 5, S. 304, 375.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Der wiederholten Fußnotenziffer ¹ wurde hier die Fußnote Nr. 2 zugeordnet.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/307&oldid=- (Version vom 23.3.2023)