ist all das bloßer Name, was die Sterblichen in der Überzeugung, es sei wahr, festgelegt haben: nämlich Werden und Vergehen, Sein- und zugleich Nicht-Sein, wie Veränderung des Orts und Wechsel der leuchtenden Farbe.“ Und doch ist auch er im Ausdruck seines höchsten Prinzips noch einmal der Gewalt der Sprache und der schillernden Vielfältigkeit ihres Seinsbegriffs erlegen. In der Eleatischen Grundformel, in dem Satz: ἔστι τὸ εἶναι gehen die verbale und die substantivische, die prädikative und die absolute Bedeutung des Seins unmittelbar in einander über. Auch Platon ist hier erst nach langen gedanklichen Kämpfen, die sich am deutlichsten in dem nach Parmenides benannten Dialog widerspiegeln, zu einer schärferen Scheidung gelangt. Im „Sophistes“, der diese Kämpfe abschließt, wird zum erstenmal in der Geschichte der Philosophie die logische Natur der reinen Relationsbegriffe klar herausgearbeitet und das eigentümliche, das spezifische „Sein“, das ihnen zukommt, bestimmt. Von dieser neu gewonnenen Einsicht aus kann Platon der gesamten früheren Philosophie entgegenhalten, daß sie das Prinzip des Seins gesucht habe, aber statt den wahren und radikalen Ursprung des Seins immer nur einzelne seiner Arten, immer nur bestimmte Formen des Seienden aufgewiesen und zur Grundlage gemacht habe. Aber selbst mit dieser prägnanten Formulierung ist der Gegensatz, der sich im Begriff des Seins birgt, nicht aufgehoben, sondern erst scharf bezeichnet. Durch die Geschichte des gesamten mittelalterlichen Denkens geht fortan dieser Gegensatz hindurch. Die Frage, wie die beiden Grundarten des Seins, wie „Essenz“ und „Existenz“ gegeneinander abzugrenzen und wie sie trotz dieser Abgrenzung miteinander zu vereinen sind, wird zu einem Zentralproblem der mittelalterlichen Philosophie. Im ontologischen Gottesbeweis, als dem spekulativen Mittelpunkt der mittelalterlichen Theologie und Metaphysik, erfährt diese Frage ihre schärfste Zuspitzung. Aber auch die moderne kritische Form des Idealismus, die auf den „stolzen Namen einer Ontologie“ verzichtet, um sich mit dem bescheidenen einer „Analytik des reinen Verstandes“ zu begnügen, sieht sich immer wieder in die Mehrdeutigkeit des Seinsbegriffs verstrickt. Noch nach der Kantischen Kritik des ontologischen Beweises hält es Fichte für erforderlich, ausdrücklich auf den Unterschied des prädikativen und des absoluten Seins hinzuweisen. Indem er in der „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ den Satz A ist A als den ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz aller Philosophie aufstellt, fügt er hinzu, daß in diesem Satz, in welchem das „Ist“ lediglich die Bedeutung der logischen Kopula habe, über die Existenz oder Nicht-Existenz des A nicht das Geringste ausgesagt werde. Das
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/306&oldid=- (Version vom 22.3.2023)