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diesen beiden Extremen zu wählen. Es gilt die Entscheidung, ob wir das Substantielle des Geistes in seiner reinen Ursprünglichkeit, die allen mittelbaren Gestaltungen vorausliegt, suchen – oder ob wir uns der Fülle und Vielfältigkeit eben dieser Vermittlungen hingeben wollen. Nur in der ersteren Auffassung scheinen wir an den eigentlichen, den echten Kern des Lebens zu rühren, der aber als ein schlechthin einfacher, in sich selbst verschlossener Kern erscheint – während wir in der zweiten zwar das gesamte Schauspiel der Entwicklungen des Geistes vor uns vorüberziehen lassen, das sich jedoch, je tiefer wir uns in dasselbe versenken, um so deutlicher in ein bloßes Schauspiel, in ein reflektiertes Abbild ohne selbständige Wahrheit und Wesenheit, auflöst. Die Kluft zwischen diesen beiden Gegensätzen läßt sich – so scheint es – durch keine Bemühung des vermittelnden Denkens, das selbst ganz auf der einen Seite des Gegensatzes verharrt, jemals überbrücken: je weiter wir in der Richtung auf das Symbolische, auf das bloß-Signifikative fortschreiten, um so mehr trennen wir uns vom Urgrund der reinen Intuition.

Nicht nur die philosophische Mystik hat immer wieder vor diesem Problem und diesem Dilemma gestanden, sondern auch die reine Logik des Idealismus hat es wiederholt aufs schärfste erfaßt und bezeichnet. Platons Darlegungen im siebenten Brief über das Verhältnis der „Idee“ zum „Zeichen“ und über die notwendige Inadäquatheit, die zwischen der einen und dem anderen besteht, schlagen ein Motiv an, das fortan in den mannigfachsten Variationen wiederkehrt. In Leibniz’ Methodenlehre der Erkenntnis ist die „intuitive Erkenntnis“ von der bloß „symbolischen“ durch einen scharfen Schnitt getrennt. Und gegenüber der Intuition, als der reinen Schau, als der eigentlichen „Sicht“ der Idee, sinkt selbst für ihn, den Urheber des Gedankens der „allgemeinen Charakteristik“, alle Erkenntnis durch bloße Symbole auf die Stufe der „blinden Erkenntnis“ (cogitatio caeca) herab[1]. Die menschliche Erkenntnis zwar kann der Bilder und Zeichen nirgends entraten; aber sie ist eben hierdurch als menschliche, d. h. als begrenzte und endliche charakterisiert, der das Ideal des vollkommenen, des urbildlichen und göttlichen Verstandes gegenübersteht. Und selbst bei Kant, der diesem Ideal seinen genauen logischen Ort angewiesen hat, indem er es als bloßen Grenzbegriff der Erkenntnis bestimmte, und der es damit kritisch bewältigt zu haben glaubte, selbst bei ihm wird – an einer Stelle, die den rein methodischen Höhepunkt der „Kritik der Urteilskraft“ bildet – der Gegensatz zwischen dem


  1. [1] Vgl. Meditationes de cognitione, veritate et ideis, Leibniz’ Philos. Schriften (Gerhardt), IV, 422 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/65&oldid=- (Version vom 20.8.2021)