„intellectus archetypus“ und dem „intellectus ectypus“, zwischen dem intuitiven, urbildlichen und dem diskursiven, „der Bilder bedürftigen“ Verstand noch einmal in höchster prinzipieller Schärfe herausgearbeitet. Vom Standpunkt dieses Gegensatzes scheint sich notwendig zu ergeben, daß je reicher der Symbolgehalt der Erkenntnis oder irgendeiner anderen geistigen Form wird, um so mehr ihr reiner Wesensgehalt verkümmern muß. Die Fülle der Bilder bezeichnet nicht, sondern verdeckt und verhüllt das bildlos-Eine, das hinter ihnen steht und auf das sie, wenngleich vergeblich, abzielen. Nur die Aufhebung aller bildlichen Bestimmtheit, nur die Rückkehr zu dem „lauteren Nichts“, wie es in der Sprache der Mystik heißt, kann uns zu dem echten Ur- und Wesensgrund zurückführen. Anders gefaßt stellt sich eben dieser Gegensatz als ein Widerstreit und als eine ständige Spannung zwischen „Kultur“ und „Leben“ dar. Denn eben dies ist das notwendige Schicksal der Kultur, daß all das, was sie in ihrem ständig weiterschreitenden Prozeß der Gestaltung und „Bildung“ erschafft, uns von der Ursprünglichkeit des Lebens fortschreitend entfernt. Je reicher und energischer der Geist sich bildend betätigt, um so weiter scheint ihn eben dieses sein Tun von dem Urquell seines eigenen Seins abzuziehen. Mehr und mehr zeigt er sich jetzt in seinen eigenen Schöpfungen – in den Worten der Sprache, in den Bildern des Mythos oder der Kunst, in den intellektuellen Symbolen der Erkenntnis – befangen, die sich gleich einem zarten und durchsichtigen, aber nichtsdestoweniger unzerreißbaren Schleier um ihn legen. Die eigentliche, die tiefste Aufgabe einer Philosophie der Kultur, einer Philosophie der Sprache, der Erkenntnis, des Mythos u. s. f. aber scheint eben darin zu bestehen, diesen Schleier aufzuheben – von der vermittelnden Sphäre des bloßen Bedeutens und Bezeichnens wieder in die ursprüngliche des intuitiven Schauens zurückzudringen. Aber auf der anderen Seite widerstreitet gerade das eigentümliche Organ, über welches die Philosophie allein verfügt, der Lösung dieser Aufgabe. Für sie, die sich erst in der Schärfe des Begriffs und in der Helle und Klarheit des „diskursiven“ Denkens vollendet, ist das Paradies der Mystik, das Paradies der reinen Unmittelbarkeit, verschlossen. Hier bleibt daher für sie kein anderer Ausweg, als die Richtung der Betrachtung umzukehren. Statt den Weg zurückzutun, muß sie versuchen, ihn nach vorwärts zu vollenden. Wenn alle Kultur sich in der Erschaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter symbolischer Formen wirksam erweist, so besteht das Ziel der Philosophie nicht darin, hinter all diese Schöpfungen zurückzugehen, sondern vielmehr darin, sie in ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und bewußt
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/66&oldid=- (Version vom 20.8.2021)