aufzufinden und ihr wechselseitiges Verhältnis in erschöpfender und eindeutiger Weise zu bestimmen, gleiten all diese Systeme verhältnismäßig rasch hinweg. Das methodische Problem der Begriffsbezeichnung wandelt sich ihnen mehr und mehr in ein rein technisches; es genügt ihnen, irgendeine, rein konventionelle, Einteilung der Begriffe zugrunde zu legen und sie durch fortschreitende Differenzierung für den Ausdruck der konkreten Denk- und Vorstellungsinhalte tauglich zu machen.
Erst Leibniz, der das Sprachproblem wieder in den Zusammenhang der allgemeinen Logik stellt und der die letztere als Voraussetzung aller Philosophie, aller theoretischen Erkenntnis überhaupt, begreift, faßt auch das Problem der Universalsprache in einer neuen Tiefe. Der Schwierigkeit, auf die schon Descartes hingewiesen hatte, ist er sich in vollem Maße bewußt; aber er glaubt in den Fortschritten, die die philosophische und wissenschaftliche Erkenntnis inzwischen gemacht hat, auch völlig neue Mittel zu ihrer Überwindung zu besitzen. Jede „Charakteristik“, die sich nicht auf eine willkürliche Zeichensprache beschränken, sondern als Characteristica realis die wahren Grundverhältnisse der Dinge zur Darstellung bringen will, fordert eine logische Analyse der Inhalte des Denkens. Aber die Aufstellung eines derartigen „Gedankenalphabets“ erscheint als keine unbegrenzte und unlösbare Aufgabe mehr, sofern man, statt von beliebigen, mehr oder weniger zufälligen Gliederungen des gesamten Begriffsstoffes auszugehen, den Weg, den die neu begründete Kombinatorik und die neu begründete mathematische Analysis gewiesen haben, folgerichtig bis zu Ende geht. Wie die algebraische Analysis uns lehrt, daß jede Zahl sich aus bestimmten ursprünglichen Elementen aufbaut, daß sie sich in eindeutiger Weise in „Primfaktoren“ zerlegen und als deren Produkt darstellen läßt, so gilt das gleiche auch für jeden Erkenntnisinhalt überhaupt. Der Zerlegung in Primzahlen entspricht die Zerlegung in primitive Ideen – und es ist einer der Grundgedanken der Leibnizschen Philosophie, daß beide im wesentlichen nach dem gleichen Prinzip und kraft ein und derselben allumfassenden Methodik zustande gebracht werden können und müssen [1]. Der Zirkel, daß die Form einer wahrhaft allgemeinen Charakteristik das
u. s. f. Vgl. George Delgarno, Ars Signorum vulgo Character universalis et lingua philosophica, London 1661, und Wilkins, An Essay towards a Real character and a Philosophical Language. London 1668. Einen kurzen Abriß der Systeme von Delgarno und Wilkins hat Couturat, La Logique de Leibniz, Paris 1901, Note III u. IV, S. 544 ff., gegeben.
- ↑ [1] Näheres hierüber in m. Schrift: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, S. 105 ff., 487 ff., sowie bei Couturat, a. a. O., bes. Cap. 3–5.
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/85&oldid=- (Version vom 15.9.2022)