So wie nach dem heidnischen Volksglauben der Griechen Charon die Seelen in einem schmalen Boote über den Cocytus fuhr, so glaubten auch einige heidnische Völkerschaften in Deutschland, daß das Reich der Lebenden und Toten durch ein Wasser getrennt werde, über welches die Gestorbenen übergesetzt werden müßten. Britannien wurde für das Totenland gehalten. Dahin, glaubte man, würden die Seelen der Abgeschiedenen gefahren. Am Ufer des festen Landes wohnten unter friesischer Oberhoheit, aber von altersher jeder Abgaben entbunden, Ackersleute und Fischer, denen es oblag, die Seelen überzusetzen. Das Amt ging der Reihe nach um. Mitternachts hörten die Leute an ihrer Thüre pochen und mit dumpfer Stimme rufen. Dann erhoben sie sich, gingen zum Ufer und erblickten dort leere Nachen, fremde, nicht eigene, bestiegen sie, griffen zum Ruder und setzten über. Sie bemerkten, daß der Nachen ganz voll geladen war und kaum fingerbreit über dem Wasser stand. Doch sahen sie Niemand und landeten schon nach einer Stunde, während sie sonst mit ihrem eigenen Fahrzeuge eine Nacht und einen Tag auf Reisen waren. In Britannien angelangt, entlud sich der Nachen alsbald von selbst und wurde so leicht, daß ihn die Flut nur ganz unten berührte. Weder während der Fahrt noch beim Aussteigen sahen die friesischen Bauern irgendwen,
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/185&oldid=- (Version vom 1.8.2018)