Segel wurden bereitet; man feuerte von oben, den Tag anzufangen, wie man ihn abends angekündigt hatte. Schon zeigten sich einzelne sogar gesellig verbundene Figuren als Schattenbilder am klaren Himmel um die Kapelle und auf dem Bergrücken, aber Strom und Ufer waren noch wenig belebt. Jedoch bald darauf waren die Abfahrenden schon in lebhafter Bewegung. Sie strömten massenweise an Bord, und ein überfülltes Schiff nach dem andern stieß vom Ufer. Drüben am Ufer her sah man Scharen ziehen, Wagen fahren; Schiffer aus den oberen Gegenden landeten daselbst, denn bergaufwärts wimmelte es bunt von Menschen, welche bemüht waren, auf mehr oder weniger jähen Fußpfaden bergan zu steigen. Fortwährendes Kanonieren deutete auf eine Folge wallfahrender Ortschaften.
Nun war es Zeit! Auch die Gesellschaft aus der Krone zu Rüdesheim befand sich mitten auf dem Flusse. Segel und Ruder von ihrem Schifflein wetteiferten mit Segel und Ruder von hundert anderen Schiffen. Dann stiegen die Fremden aus. Den steilsten, im Zickzack über Felsen springenden Stieg erklommen sie mit Hundert und aber Hunderten, langsam, öfters rastend und scherzend.
Oben um die Kapelle fand man Drang und Bewegung. Man gelangte selbst mit hinein. Der innere Raum bildete ein beinahe gleiches Viereck, jede Seite von etwa dreißig Fuß, das Chor im Grunde vielleicht zwanzig. Hier stand der Hauptaltar, nicht modern, aber im wohlhäbigen katholischen Kirchengeschmacke. Er stieg hoch in die Höhe, und die Kapelle überhaupt hatte ein recht freies Ansehen. Zwei ähnliche Altäre in den nächsten Ecken des Hauptvierecks waren nicht beschädigt, – alles wie vorzeiten. Die Menge bewegte sich von der Hauptthür gegen den Hochaltar, wandte sich dann links, wo sie einer im Glassarge liegenden Reliquie große Verehrung bezeigte. Sie betastete den Kasten, bestrich ihn, segnete sich und verweilte so lange sie konnte; aber einer verdrängte den andern, und so ward auch die Gesellschaft aus Wiesbaden im Strome vorbei zur Seitenpforte hinausgeschoben.
Diese Gesellschaft wurde von einem in der Gegend sehr angesehenen nassauischen Beamten geführt. Zu demselben traten einige ältere Männer aus Bingen. Sie rühmten ihn als einen guten und hülfreichen Nachbar, ja, als den Mann, der ihnen das damalige Fest mit Anstand zu feiern
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/93&oldid=- (Version vom 1.8.2018)