Heinrich Pröhle: Der Name Ingelheim. In: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten, 2. Auflage | |
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Als König Karolus noch jung war, erblickte er einst bei Nacht im Traume einen Engel, der strahlte großen Glanz aus und war ganz in Erz gehüllt. Der Engel sprach: „Karole, Du sollst stehlen! Du sollst stehlen!“ Karolus legte sich auf die andere Seite und wiederholte im Schlafe: „Du sollst nicht stehlen!“ Da wiederholte aber der Engel: „Nein, Karole, Du sollst und mußt stehlen!“ Karolus kratzte sich hinter dem Ohr. Der Engel aber rief: „Karole, stiehl! stiehl!“ Und damit war er verschwunden. Karolus aber erwachte. Er dachte nach und nahm sich vor, das Gebot, das ihm der Engel verkündigt hatte, nur den Worten nach zum Scheine zu erfüllen. Er wollte sich selbst bestehlen. Deshalb wollte er in den Wald reiten und sich in den Dienst des Räubers Elbegast begeben. Diesen hatte Karolus in jenen Tagen hart aber vergeblich verfolgen lassen. Nun wollte er sein Spießgeselle werden bei einem Einbruche in das königliche Hoflager. Als Elbegasts Kumpan glaubte er bei Hofe ohne Sünde stehlen zu können, da er nur sich selbst bestahl.
Er ging also gleich heimlich in den Pferdestall, sattelte und zäumte seinen Leibhengst und gelangte auch glücklich ins Freie, ohne daß es jemand bemerkte. Er ritt in den Wald, da ihm dann der Räuber Elbegast auf seinem Hengste alsbald entgegengeritten kam. „Ich bin Elbegast“, sprach er, „Du aber bist ein Hofmann, welchem Karolus geboten hat mich gefangen zu nehmen. Du Thor! Ich weiß die Wege im Walde besser als die Füchse und Rehe! Wie leicht könnte ich Dir entwischen! Aber der Mondschein, der durch die Wipfel fällt, zeigt mir,
Heinrich Pröhle: Der Name Ingelheim. In: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten, 2. Auflage. Meidinger , Berlin [ca. 1892], Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten_2.djvu/1&oldid=- (Version vom 1.8.2018)