Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Erster Theil | |
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Wohlwollen, wozu ich mich durch solche Betrachtungen erst auffordern lasse, ist, so verdienstlich es an sich seyn mag, keine Liebe. Das Allmosen, welches ich monatlich in die Armenbüchse werfe, weil ich mir sage: du bist Mitbürger! kommt nicht aus dem Herzen, das mit Heinrich dem Vierten über den Bauern Wonne empfindet, der alle Sonntage sein Huhn in der Suppe haben kann.
Und wenn es auch Achtung für die Harmonie meines Charakters, oder für mein eigenes sittliches Gesetz ist, die mich zwingt, wohlzuwollen und wohlzuthun; wenn ich, ohne natürliche Anlage zur Wonne an dem Glück meiner Mitgeschöpfe, sie dennoch gern froh und zufrieden wüßte, und gern dazu beytrüge, weil ich mir sagte: es ist Recht! – es wäre sehr verdienstlich, verdienstlicher vielleicht, als wenn es unaufgefordert geschähe; aber Liebe wäre es doch nicht.
Strebe ich nun gar nach Wohlthätigkeit, um mir sagen zu können: ich that’s, das konnte ich, ich bin doch eine liebende Seele! – so habe ich so wenig Anspruch auf Liebe als auf moralische Würde.
Auch Dankbarkeit ist nicht Liebe, sobald ich durch die Rücksicht auf mich, der ich empfangen habe, wohlwill und wohlthue. Oft ist sie Folge des Gefühls der Bürde, welche mir die Wohlthat auflegt, oft des Gefühls von Pflicht, von Gerechtigkeit, von Achtung für uns selbst und andere. Mehrerer gröberer und feinerer Entstehungsarten zu geschweigen! Liebe setzt unaufgeforderte Wonne am Wohlwollen und Wohlthun zum Voraus.
Basilius von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Erster Theil. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1798, Seite 288. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ramdohr-Venus_Urania-Band_1.djvu/288&oldid=- (Version vom 1.8.2018)